Eine Studie über die paradoxe Natur des amerikanischen Traums, eine sensible Buddy-Comedy sowie eine aufregende Antithese zu Pretty Woman: Das waren die Highlights der 62. Ausgabe der Viennale.
The Brutalist
Mit seiner dritten Regiearbeit hat sich der (ehemalige?) Schauspieler Brady Corbet ein für alle Mal als maßgeblicher zeitgenössischer Filmemacher etabliert, der kein künstlerisches Risiko scheut. Über dreieinhalb Stunden (Intermission inklusive) entfaltete er mit wilder Ambition die epische Geschichte von László Tóth (Adrien Brody in einer Karrierebestleistung), einem genialen jüdisch-ungarischen Architekten, der nach seiner Flucht aus Europa im Amerika der Nachkriegszeit mit den Verheißungen und Verwerfungen des Kapitalismus und seiner Identität ringt. Corbet verband eine kühne Inszenierung, eine erstklassige Darstellerriege – darunter Guy Pearce und Felicity Jones – und Anklänge an die cineastischen Großwerke der 70er Jahre zu einem filmischen Monument, von dem stets auch eine verführerische Rätselhaftigkeit ausging. The Brutalist fesselte und forderte gleichermaßen, faszinierte als Werk von visionärer Größe, das wie Tóths Bauten den Anspruch auf Zeitlosigkeit erhob: ein bildprächtiges (DoP Lol Crawley drehte im legendären VistaVision-Format) und wirkungsmächtiges Statement über den Preis der Individualität und die paradoxe Natur des amerikanischen Traums.
I’m Still Here
Lange nichts gehört von Walter Salles, der sich einst mit Central Station und The Motorcycle Diaries als Spezialist für nuancierte Erzählungen empfahl. Umso erfreulicher sein Comeback: das behutsame, unaufgeregte Porträt einer vom Schicksal gebeutelten Familie vor dem Hintergrund der brasilianischen Militärdiktatur der 1970er Jahre. Mittendrin: Eunice Paiva (außerordentlich: Fernanda Torres), die nach der Verschleppung ihres (Ex-)Politiker-Ehemanns alles daransetzen musste, ihre Familie zusammenzuhalten. Salles skizzierte ein Tableau von Verlust und Widerstand, wobei er das persönliche Drama zu einer übergreifenden Tragödie auffächerte: Die Geschichte einer Sippe wurde zum Abbild einer ganzen Gesellschaft. Zwischen Empathie und politischer Schärfe formulierte Ainda Estou Aqui (so der Originaltitel) einen universellen Appell für Gerechtigkeit. Der Film setzte der Vergangenheit ein würdiges Andenken – und war zugleich eine eindringliche Mahnung an die Gegenwart.
A Different Man
Das Warten auf ein neues filmisches Lebenszeichen von Charlie Kaufman lässt sich wunderbar mit dem schonungslos unterhaltsamen Film eines, nun ja, ganz anderen Mannes überbrücken: In seiner dritten Regiearbeit lässt Aaron Schimberg den von Neurofibromatose betroffenen Schauspieler Edward durch ein medizinisches Wunder zur makellosen Schönheit (Sebastian Stan) mutieren und nutzt diese Prämisse für eine ebenso bissige wie pointierte Dekonstruktion der Mythologie vom erlösenden Make-over. A Different Man verweigert sich jeder Sentimentalität. Anstatt Trost oder Transformation zu bieten, entlarvt der Film mit chirurgischer Schärfe den Irrglauben, äußere Attraktivität könne innere Leere kompensieren. Edward bleibt trotz seines neuen Gesichts ein verklemmter Verlierer. Genau darin liegt die subversive Kraft dieser Studie über Selbsttäuschung: Sie zeigt eine Gesellschaft, die Schönheit mit Wert verwechselt und dabei alle ernüchtert, die auf dieses falsche Versprechen hereinfallen.
Anora
Mit Meisterleistungen wie The Florida Project und Red Rocket, die mit Laiendarstellern und einem zutiefst menschlichen Blick auf das Leben am Rande der Gesellschaft glänzten, hat sich Sean Baker längst als einer der wichtigsten Independent-Filmemacher seiner Generation etabliert. Sein jüngster und bislang größter Wurf, Anora, in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet, bewahrte die empathische Energie dieser Werke, verschränkte sie aber mit der chaotischen Dynamik einer Screwball-Comedy. Was zunächst wie eine fast konventionelle Liebesgeschichte zwischen einem Jungen und einem Mädchen anmutete – wenn der Junge ein steinreicher Oligarchenspross ist und das Mädchen eine Sexarbeiterin aus der Arbeiterklasse, die seinen impulsiven Heiratsantrag annimmt –, eskalierte nach und nach zu einer vogelwilden Odyssee durch eine New Yorker Nacht, in der die Idylle schneller implodierte, als jemand Take Thats „Greatest Day“ anstimmen konnte. Spätestens im durchgeknallten, elektrisierenden Mittelakt entfernte sich Anora weit von allen Pretty Woman-Anklängen und näherte sich der fiebrigen Intensität einer Safdie-Produktion. Mit der umwerfenden Mikey Madison in der Titelrolle gelang Baker eine hinreißende Pastiche aus Sozialkritik, überdrehtem Humor und melancholischem Grundrauschen.
A Real Pain
A pleasant surprise: Indie-Nervenbündel Jesse Eisenberg ist mit seiner zweiten Regiearbeit (nach dem unausgegorenen When You Finish Saving the World) eine exquisite Tragikomödie über Familie, Verlust und das Erbe des Holocaust gelungen. A Real Pain schickte zwei ungleiche, halb- bis völlig entfremdete Cousins – den neurotischen David (Eisenberg) und den exzentrischen Benji (Kieran Culkin) – auf einen Roadtrip durch Polen, der sie auf den Spuren ihrer geliebten Oma bald an die Grenzen ihrer Belastbarkeit führte. Eisenbergs Buch und Regie imponierten mit pointiertem Dialogwitz und ausgeprägtem Gespür für Zwischentöne, während Culkins herausragende Performance zum Herzstück des Films avancierte: Der Succession-Standout meisterte mit Bravour den Spagat zwischen sprunghaftem Enthusiasmus und tiefer Verletzlichkeit. Die sensible Buddy-Komödie verzichtete auf einfache Antworten und stellte stattdessen eine Frage, die nachhallte: Wie lebt man mit dem Schmerz, der bleibt?