Wir müssen reden! Sarah Polleys Ensemble-Drama über die richtungsweisende Aussprache missbrauchter Mennoniten-Frauen verhandelt ein heftiges Thema mit Ehrlichkeit, Feingefühl und unvermuteter Zuversicht.

Darum geht’s: Der Paukenschlag: Er kommt hier mit einiger Verzögerung. Und zwar auf dem Wege eines Inserts, das für einen Augenblick die Zahl 2010 ins Sichtfeld rückt – tatsächlich das Jahr der Handlung dieses Films, die man bis zu diesem Zeitpunkt wohl eher in einer finsteren, längst überwunden geglaubten Vergangenheit verortet hätte. Die Erschütterung hingegen: Sie stellte sich schon etwas früher ein. Geht sie doch von der auf wahrlich erschütternden wahren Begebenheiten beruhenden Geschichte selbst aus, die von Miriam Toews in ihrem wie genauso der Film betitelten, 2019 veröffentlichten Roman Women Talking notiert (im Übrigen heißen beide, in einer eklatanten Verkürzung der Kernaussage auf Deutsch lediglich: Die Aussprache) und von der multitalentierten Kanadierin Sarah Polley (ihre feine Regiearbeit Stories We Tell, tatsächlich schon zehn Jahre her) nun für die Leinwand adaptiert wurde.

Und jene Geschichte geht so: Anno, ja, 2010 werden die Frauen einer von der Außenwelt wie von jeder Errungenschaft moderner Zivilisation abgenabelten religiösen Gemeinschaft von ihren Ehemännern, Vätern und Brüdern regelmäßig betäubt und missbraucht. Sobald sie nach dem Martyrium wieder bei Bewusstsein sind, wird ihnen weisgemacht, dass sie von Dämonen und der dem Teufel höchstselbst heimgesucht worden sein müssen – wahrscheinlich als Bestrafung für ihre eigenen Verfehlungen. Ein auf unfassbarer Infamie errichtetes Lügengebäude, das aber in sich zusammenkracht, als zwei Mädchen einen der Vergewaltiger beim Zurückschleichen in sein Quartier beobachten können. Zahlreiche Festnahmen sind die eine Folge, das Verschwinden auch der restlichen Männer aus der Kolonie in Richtung Stadt (zwecks Kautions-Stellung) die andere. Und so kommt es, dass die verbliebenen Frauen nun zum ersten Mal in ihrem Leben 48 Stunden nur für sich haben. Zeit, um die schwerwiegende Entscheidung zu fällen, wie ihre Welt in Zukunft aussehen soll – und damit auch jene ihrer Schwestern und Töchter, freilich auch Söhne. Sollen diese tiefgläubigen Frauen einfach ihr Leiden im Vertrauen auf die Erlösung im Himmelreich weiterhin stillschweigend in Kauf nehmen? Oder sollen sie zwar auch noch bleiben, dabei jedoch versuchen, die in ihrem Kern so hochgradig misogyne Gemeinschaft sozusagen von innen heraus zu verändern? Oder sollen sie nicht lieber doch gleich über die einfachen Häuser hauen und andernorts gemeinsam einen Neuanfang wagen? Should they stay or should they go?

Die naturgemäß intensive, alle Eventualitäten in Erwägung ziehende Debatte in einer Scheune klarerweise zum absoluten Kernstück ihres Films erklärend lässt uns Polley erste Reihe fußfrei dabei zusehen, wie die Vertreterinnen der Kommunenfamilien mit der Wucht der Aufgabe, die wichtigste Entscheidung ihres Lebens fällen zu müssen, umgehen. Women Talking nimmt sich dafür alle Zeit der Welt, vermisst Beziehungen und Bündnisse mit Nuance, lässt Positionen und Emotionen aufeinanderprallen. Und zieht uns dabei Szene für Szene in das Leben dieser so lebendig und facettenreich gezeichneten Frauen hinein. Da ist Claire Foys Salome, akut aufgewühlt von der Gewalt, die ihrer Tochter angetan wurde, da ist Rooney Maras trotz ihrer aus einer Vergewaltigung hervorgegangenen Schwangerschaft sanftmütige, Nachsicht predigende Ona und da ist Jessie Buckleys vor lange aufgestauter Wut kochendes Missbrauchsopfer Mariche. Was da nicht ist: die Übergriffe selbst, die nicht gezeigt und deren schrecklichen Details auch in der Unterredung so weit wie möglich ausgespart bleiben. Weil alle Beteiligten auch so wissen, was Sache ist und weil die knapp bemessene Zeit anders genutzt werden will. Der Weg zur Essenz der Erkenntnis ist ohnehin fordernd und bisweilen frustrierend genug: Schließlich wird diesem eingeschworenen Zirkel recht bald klar, dass es für sie ebenso unmöglich ist, zu vergeben wie der eigenen Empörung in einem angemessenen Ausmaß freien Lauf zu lassen, ohne selbst vor unberechenbaren Konsequenzen Angst haben zu müssen.

Und so hören wir uns an, was diese Frauen erzählen. Wie sie, die noch nie in ihren Leben mit dem Begriff Me Too in Kontakt gekommen sind, eine musterbeispielhafte Me-Too-Geschichte verhandeln. Bekommen zu fassen, wie es sein mag, sich aus dem temporären Gefühl der Sicherheit heraus zum ersten Mal halbwegs ungefiltert (es gibt schließlich auch noch manches Denktabu, das der tiefe Glaube auferlegt) austauschen zu können, die Standpunkte der anderen trotz der oft konträren eigenen Sichtweise wertschätzend. Lachen sogar dann und wann einmal mit Salome, Ona und ihre Mitstreiterinnen, wenn ihnen im ungewohnten Ambiente der Geborgenheit bisweilen sogar ein kleiner Scherz über die Lippen kommt – eine Diversität der Gefühle, das die stets schale, mausgraue Ästhetik von Kameramann Luc Montpellier visuell kaum gebührend widerzuspiegeln versteht. Es ist dies allerdings auch der einzige Makel dieser exzellenten Arbeit, die es nicht nur versteht, ein heftiges Thema mit Sensibilität und Empathie zu vermessen, sondern im Zuge dessen auch die oft verkannte Stärke eines ehrlichen, emotionalen und, ja, erschöpfenden Meinungsaustausches nutzend ein besseres Morgen zumindest einmal Idee werden zu lassen. Eine neue Welt zu denken, die nach dem Dampfablassen eben nicht der archaischen Gestern-Logik des Vendetta-Ventils gehorcht, sondern die Kraft von Heilung und Hoffnung beschwört. Eine Botschaft, so unerhört, dass sie nicht ungehört bleiben soll.

Besondere Beachtung: Unerhört irgendwie aber auch, dass Women Talking zwar Oscar-Nominierungen in den Kategorien Bester Film und Bestes adaptiertes Drehbuch einkassieren konnte, anderweitig jedoch verschmäht wurde. Was bei Beste Kamera ob des leider öden Looks nur allzu verständlich ist, schmerzt jedoch in den Darstellerinnen-Kategorien. Ja, vielleicht ist Die Aussprache das jüngste Paradebeispiel eines Films, der von einem (noch) fiktiven Academy Award für den Besten Gesamt-Cast profitiert hätte? Der wäre Claire Foy, Rooney Mara (die doppelte Lisbeth Salander!) und Jessie Buckley (die erneut Troubles mit übergriffigen Men hat) wohl nur schwerlich zu nehmen gewesen, während sich die Quasi-Hauptdarstellerinnen in der aktuellen Konstellation wohl gegenseitig die Stimmen weggenommen haben könnten … All das erklärt und rechtfertigt freilich noch lange nicht, dass überdies Sarah Polley in der Kategorie Beste Regie übergangen wurde. Eine Aussprache, auch hier: dringend von Nöten!

Koordinaten: Unorthodox; Big Love; She Said; Martha Marcy May Marlene; The Magdalene Sisters

Anschauen oder auslassen? Anschauen. Weil Regisseurin Sarah Polley angelehnt an den Titel  ihres letzten Films erneut mit stiller, reflektierter Wucht die Erkenntnis hoch hält, dass es die individuellen Stories We Tell sind, die zählen. Weil sie es lohnen, gehört zu werden – und seien sie auch noch so unfassbar wie diese wahre Geschichte missbrauchter Mennoniten-Frauen. Darüber hinaus unbedingt der Rede wert: Dass Women Talking bei aller Schrecklichkeit der Ereignisse auch in der dunkelsten Stunde die Zuversicht nicht aus den Augen verliert.

 

[Geschaut: Im Rahmen der Viennale 2022]