Anlässlich von Jonathan Glazers jüngstem, höchst intensivem Meisterwerk geht die Podcast-Kolumne für The Gap der Frage nach, wie es möglich ist, dass offensichtliches Grauen durch Selbsttäuschung ausgeblendet werden kann.

Schafft Sprache Wirklichkeit? Können wir durch das gesprochene oder geschriebene Wort den Dingen eine ganz bestimmte Bedeutung geben (und nehmen), sie in eine bestimmte Richtung lenken? Oder bildet Sprache die Wirklichkeit maximal ab, weil diese letztlich immer die Art und Weise konstituiert und prägt, wie wir kommunizieren und Sachverhalte benennen? Wie also verläuft die Wechselbeziehung zwischen Wort und Wirklichkeit? Eine abschließende Antwort auf diese Frage wird sicher noch die eine oder andere Kolumne auf sich warten lassen. Und doch geht sie einem – neben so vielem anderen – nach der Sichtung des letztjährigen Cannes-Gewinnerfilms The Zone of Interest nicht mehr aus dem Kopf.

Verschleiernde Wortwolken

Die Sprache also. Es wird in dieser ziemlich freien Adaption des gleichnamigen Romans von Martin Amis durch Regisseur Jonathan Glazer zweifellos viel geredet von den Protagonisten – in erster Linie sind das der NS-Kommandant Rudolf Höß (Christian Friedel) und seine Frau Hedwig (Germany’s Finest: Sandra Hüller). Aber selten eben Klartext. Vielmehr wird die Realität des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau, die sich direkt hinter den eigenen Grundstücksmauern abspielt, systematisch durch Worte verwischt, vernebelt und bis zur Unkenntlichkeit entstellt.

Da ist zunächst einmal die erschütternd euphemistische nationalsozialistische Sprachordnung, die die unbeschreibliche Neo-Normalität gezielt unter den verschleiernden Wortwolken technokratischer Sachlogik zu verbergen sucht. Besonders deutlich wird dies in den dienstlichen Unterredungen von und mit Lagerleiter Höß, in denen mit nur scheinbar komplett unverfänglichen Vokabeln wie „Stücken“ und „Ladungen“ der industrielle Massenmord der „KL-Praxis“ durchexerziert wird. Nur folgerichtig also, dass das faschistische Vorzeigeleben auch im privaten Rosengarten Eden der Familie konsequent unter dem Aspekt der sprachlichen Ausblendung der Allgegenwart rauchender Schlote, gedämpfter Schreie und gelegentlicher Schüsse praktiziert wird.

Selbstredend wissen alle um die höllischen Zustände jenseits der Mauer, sie haben sich nur durch systematisches Ausblenden der eigenen Sinne innerlich völlig davon distanziert und da- mit gleichgültig gegenüber dem Leid gemacht. Selbst wenn die Sippe das Geschehen im Lager denn einmal nicht gänzlich ausklammert, thematisiert sie es am Rande von Kindergeburtstagen und Kaffeekränzchen auf denkbar profanste Weise. Ohne nur ansatzweise Empathie für diese seelenlosen Biedermeier evozieren zu wollen, versteht es The Zone of Interest aber, uns nach und nach in den Bannkreis des Bösen zu ziehen – was einem spätestens in jenem schockierenden Moment bewusst wird, in dem man beim Zuschauen bemerkt, dass man ja selbst die ununterbrochene Geräuschkulisse des Grauens im Hintergrund stets ein wenig ausblenden muss, um verstehen zu können, was da im Haushalt vor sich geht. Uff.

Moralischer Prüfstand

Glazer gelingt damit in seinem vierten Langfilm (sein radikales Sci-Fi-Delirium Under the Skin liegt auch schon ein Jahrzehnt zurück) etwas fürs Holocaust-Kino Unerhörtes. Oder besser: Ungesehenes. Denn der Brite mit jüdischen Wurzeln macht das Grauen auf beklemmende Weise gerade durch das erfahrbar, was nicht gezeigt wird. Als Gegenentwurf zur gängigen filmischen Aufarbeitung der Shoah verzichtet er gezielt darauf, den Lageralltag in möglichst erschreckenden und eindringlichen Bildern zu rekonstruieren, belässt es bei bloßen Andeutungen. Durch diese Abstraktion erlaubt, ja zwingt er uns gewissermaßen, uns selbst auf den moralischen Prüfstand zu stellen.

Denn The Zone of Interest erzählt nicht unbedingt nur von der viel zitierten Banalität des Bösen. Mit enormer formaler und inhaltlicher Strenge illustriert Glazer auch die mentalen Verrenkungen, die Menschen auf sich nehmen, um sich vor verstörenden Wahrheiten zu schützen. Weil diese Taktik aber zu einigen der grauenvollsten Momente in der Menschheitsgeschichte geführt hat und weil das Grauen auch nur einen Steinwurf entfernt sein kann, ist es eben von entscheidender Wichtigkeit, wie wir mit Ungerechtigkeit umgehen. Ob wir hin- oder wegschauen. Ob wir handeln oder uns taub stellen.

Diese (hoffentlich nicht zu) subtil vermittelte Erkenntnis könnte in einer wieder einmal beängstigenden Zeit aktueller kaum sein. Einer Zeit, in der völkische Eliten allen bitteren Ernstes widerwärtige Vertreibungsfantasien in die Welt setzen, einer Zeit, in der die ekelhafte alte Fratze des Antisemitismus quer durch alle Bevölkerungsschichten bis tief hinein in sich progressiv wähnende Kreise wieder salonfähig geworden zu sein scheint. Einer Zeit, in der wir letztlich alle Tag für Tag den Tunnelblick bemühen, um gewisse unangenehme Realitäten auszublenden. Einer Zeit, in der diese selektiven Wahrnehmungen mit wohlfeilen Worten – Wirklichkeit, geschaffen durch Sprache eben – zurechtgebogen werden. Vielleicht wäre es auch an der Zeit für einen Reality Check – unserer Sprache, unserer Wahrnehmung. Und vielleicht ist dieser brillante Film, der sich nicht so einfach von der Seele wischen lässt, ein Anstoß dazu.