Das goldene Dutzend der Film-Saison bescherte uns zügellose Leidenschaften und ungehemmte Echsenexzesse, große Dramen zwischen High Speed und tiefem Sturz sowie einen durch unsere Träume wandelnden Nicolas Cage.

12. Dream Scenario

Der norwegische Regisseur Kristoffer Borgli zählte 2023 zu den erfreulichsten Entdeckungen. Nachdem er bereits zu Beginn des Jahres mit der bitterbösen Online-Narzissmus-Demontage Sick of Myself für gröbere Verstörung gesorgt hatte, legte er in der zweiten Hälfte dieser Spielzeit mit seinem englischsprachigen Debüt nicht minder bemerkenswert nach. Seinem Lieblingsthema – dem verhängnisvollen Zusammenspiel von Social Media, Gesellschaft und Selbstbild – blieb er dabei treu. Mit einer in wahrsten Sinne traumhaften Prämisse nämlich. In dieser Produktion von A24 (who else?) bestach der tollkühne Nicolas Cage (who else?) als unauffälliger Professor, der eines Tages feststellen musste, dass er in den Träumen von fremden Menschen auf der ganzen Welt aufzutauchen begann. Nachdem der Nobody seine virale Berühmtheit zunächst mit Freude zur Kenntnis genommen hatte (vielleicht würde man ja sein Buch veröffentlichen?), machte sich jedoch mit jeder weiteren unangenehmen Begegnung mehr Entsetzen breit. Die Aufmerksamkeit der ganzen Welt: Sie ist nur so lange leiwand, bis sie dein Leben zu vergiften beginnt. Weil du halt null Einfluss darauf hast, wie andere dich in ihren Köpfen wahrnehmen. In der Tradition der Geniestreiche von Charlie Kaufman ließ diese surreale Satire den Zuschauer zu gleichen Teilen schmunzeln und vor existenzieller Beklemmung erschaudern – mitunter in ein und derselben Szene.

11. Anatomy of a Fall

Der diesjährige Palme d’Or-Gewinner: ein raffiniert trügerisches Justizdrama mit doppeltem Boden. Im Mittelpunkt des jüngsten Werks der französischen Regisseurin Justine Triet stand eine erfolgreiche Schriftstellerin (herausragend: Sandra Hüller), die des Mordes an ihrem Mann verdächtigt wurde, nachdem dieser unter rätselhaften Umständen aus dem obersten Stockwerk ihres Chalets in den Tod gestürzt war. Während ein Verfahren den Fall im doppelten Wortsinn aufklären sollte und der blinde Sohn der beiden als Zeuge im Zuge dessen in ein moralisches Dilemma zu geraten drohte, erfuhren wir mit jeder Enthüllung auch mehr über die bewegte Beziehungsgeschichte des Paares. Ohne spoilern zu wollen, hatte Triet mehr im Sinn als rein die Beantwortung der zentralen Schuldfrage. Als wäre Szenen einer Ehe in Form eines Whodunnits wieder zum Leben erweckt worden, lieferte Anatomy of a Fall eine scharfsinnige, aufwühlende Analyse zwischenmenschlicher Beziehungen und einen ungeschönten Blick auf die Lügen, Geheimnisse und Vertrauensbrüche, die diese zerbröseln lassen. Apropos Brösel: 50 Cents „P.I.M.P.“ wird man nach diesem Film auch nie wieder mit denselben Ohren hören können.

10. When Evil Lurks

Der Eindruck mag täuschen, aber es gab in der jüngeren Vergangenheit auch fruchtbarere Horrorfilmjahre, oder? Man könnte zum Beispiel lange darüber diskutieren, welchen Eindruck die Reaktivierungen legendärer Stoffe hinterlassen haben. War Evil Dead Rise nicht ein wenig unterwältigend? Gab es einen gröberen Totalschaden als The Exorcist: Believer? Gleichwohl lässt sich zumindest eine uneingeschränkte Empfehlung aus der Schauderecke aussprechen: Demián Rugnas When Evil Lurks verstand es pikanterweise, Ideen aus den eben genannten Franchises zu etwas zu verknüpfen, das einem unvorbereitet tatsächlich richtig ungut unter die Haut ging. Das dämonische Böse war in diesem Besessenheitslauffeuer im argentinischen Hinterland im Grunde immer und überall, es befiel in Form unvermittelter schockierender Gewaltexzesse wahrhaftig jeden und alles, was ihm in den Weg kam, Tiere und Kinder inklusive. Doch wenn man sich erst einmal darauf eingelassen hatte, war es gerade die alles durchdringende Ausweglosigkeit, in der man alle Hoffnung fahren lassen musste, die diesem Albtraum eine so bestechend bestürzende Intensität verlieh. Das Feel-Bad-Movie des Jahres? Hell yeah!

9. Ferrari

An das letzte Mal, als sich eine über 80-jährige Hollywood-Filmemacher-Ikone mit Adam Driver in der Hauptrolle an ein italienisches Nationalheiligtum wagte, wollen wir uns lieber nicht erinnern. Denn dies ist garantiert nicht das House of Gucci, und Michael Mann ist auch fix nicht Ridley Scott. Wo dieser seine Filme auch im hohen Alter wie am Fließband herunterkurbelt, nimmt sich der Heat-Regisseur bewusst Zeit, sie reifen zu lassen. Das Ergebnis sind hypnotisch elegante, stilistisch solitäre Wunderwerke wie dieses Biopic über zentrale drei Monate im Leben von Enzo Ferrari. In jener Zeit Mitte der 50er Jahre versuchte der Automobilkonstrukteur nicht nur, seine Firma durch den Sieg bei einem 1000-Meilen-Rennen vor dem Bankrott zu retten, sondern auch seine beiden Liebesleben mit Ehefrau (Penélope Cruz) bzw. Geliebter (Shailene Woodley) nicht miteinander kollidieren zu lassen. Und hier kam in zentraler Funktion der bereits erwähnte Adam ins Spiel, der den Driver-Zampano als unnahbare Autoritätsperson interpretierte: wortkarg, ungerührt, eine tief sitzende Traurigkeit auf Dauer nur unzureichend überspielend. Eine Performance, so unprätentiös groß wie der Film, in den sie eingebettet war. Das alles ergab knapp nach der Ziellinie jenen raren Eintrag ins Genres des Autokinos, den man – wie der Autor dieser Zeilen – auch gut finden konnte, wenn man für Karren null übrig hat.

8. Past Lives

Man könnte es sich in Bezug auf die Einordnung von Celine Songs erstaunlichem Regiedebüt bequem einrichten und mit einigen gewichtigen filmischen Referenzen beginnen: In The Mood For Love, Eternal Sunshine of the Spotless Mind, Richard Linklaters Before-Trilogie. Doch obwohl diese Meisterwerke zweifellos eine gewisse filmische DNA mit Past Lives teilen, würde man es sich damit leichter machen als der Film sich selbst – und vor allem seinen Protagonisten. Vage an Songs Erfahrungen angelehnt, kreiste die Handlung um zwei koreanische Jugendfreunde, die durch den Umzug einer der beiden nach Amerika für immer getrennt zu sein scheinen. Doch selbst nachdem sie sich irgendwann über das Internet wiedergefunden und vielleicht sogar ineinander verliebt hatten, verloren sie sich wieder aus den Augen – es sollte viele weitere Jahre dauern, bis sie sich schließlich zum ersten Mal wieder von Angesicht zu Angesicht begegneten. Während man nun auf das Aufflammen einer überfälligen Romanze wartete, hatte der Film Subtileres im Sinn. Mit beiläufiger poetischer Brillanz beschrieb Song die Wehmut über den Verlust von etwas, das man nie hatte und nie erleben wird. Und zeichnete damit ein melancholisch-magisches Porträt tief verbundener Seelen, die zwar ihren gemeinsamen Weg nicht gefunden haben, aber auf ewig wissen werden, was sie einander bedeuten.

7. Spider-Man: Across the Spider-Verse

2023 wird vermutlich als das Jahr in die Filmgeschichte eingehen, in dem der chronische Comic-Kino-Höhenflug ein für alle Mal seine kreative Bauchlandung erlitt (wenn nicht grad vergangene Großtaten wie die Guardians of the Galaxy-Franchise eine würdige Ehrenrunde drehen durften). Aber es gab ein Werk, das sich diesem Absturz mit Bravour entzog – mit mehr Verve und Ideen, Gags und Charakteren als der Rest der heurigen Marvel/DC-Filme kombiniert. So gelungen vor fünf Jahren bereits Into the Spider-Verse mit seinem revolutionären Animationsstil-Crossover war: Dieses zweite Kapitel legte nicht nur die Messlatte für die gesamte Spider-Man-Reihe auf ein neues kreatives Niveau, sondern lieferte nebenbei auch das überzeugendste Argument dafür, dass Superheldenstreifen doch noch ihre Daseinsberechtigung haben können. Selbst die sonst so ermüdende Multiversums-Nummer war eine Bereicherung für diesen schwindelerregenden Film. Mit jeder weiteren erschlossenen Welt und jedem neuen Spider-Character wuchs auch die Zahl der visuellen Techniken und respektlosen popkulturellen Anspielungen. Selbst wenn sich das fundiert emotionale Finale letztlich nur als Cliffhanger für das nächste Abenteuer entpuppte: So rundum überwältigt hatte man sich nach einem Comicfilm-Kinobesuch schon lange nicht mehr gefühlt.

6. All of Us Strangers

Die Geistergeschichte, die in diesem Jahr am intensivsten für Gänsehaut zu sorgen wusste, war keineswegs ein Horrorfilm, sondern diese Adaption eines Romans von Taichi Yamada. In einem merkwürdig menschenleeren Londoner Hochhaus lernte der verschlossene Schreiber Adam (Andrew Scott, der Hot Priest aus Fleabag) einen feschen, mysteriösen Nachbarn (Paul Mescal) kennen. Während die beiden sich zögernd annäherten, stieg Adam immer wieder in einen Zug, um seine Eltern (Jamie Bell und Claire Foy) im Haus seiner Kindheit zu besuchen. Aber warum schienen Mom und Dad in seinem Alter zu sein? Regisseur Andrew Haigh (Weekend) nahm sich alle Zeit der Welt, um das Mysterium des Stoffs zu lüften, während er sich mit traumwandlerisch sicher an seinen emotionalen Kern heranschlich. Inszenatorisch virtuos verstand er es, dabei weder zu früh die Karten auf den Tisch zu legen noch ins Unglaubwürdige oder auch Rührselige abzugleiten. Was selbstverständlich nicht heißt, dass man für das Ende dieser einfühlsamen Auseinandersetzung mit Themen wie Familie, queerer Liebe und Vergänglichkeit nicht sicherheitshalber doch ein paar Taschentücher bereithalten sollte …

5. Are You There God? It’s Me, Margaret

Seit seinem Erscheinen vor mehr als fünf Jahrzehnten hat sich Judy Blumes Are You There God? It’s Me, Margaret zum Jugendliteratur-Evergreen entwickelt: als ehrliche Auseinandersetzung mit weiblichem Erwachsenwerden und den damit verbundenen Ängsten. Wohl auch deshalb weigerte sich Blume lange, die Filmrechte zu verkaufen – bis schließlich Kelly Fremon Craig auf sie zukam. Und die Autorin und Regisseurin, die bereits mit The Edge of Seventeen bewiesen hat, dass sie Coming-of-Age-Filme klischeefrei und einfühlsam inszenieren kann, sollte sich in der Tat als Idealbesetzung für die große Aufgabe erweisen. Fremon traf Wahrheit und Tonfall der Vorlage, erstarrte dabei aber nicht in Ehrfrucht vor ihr. So wurde die im Buch vorrangige Auseinandersetzung der elfjährigen Titelheldin (Entdeckung des Jahres: Abby Ryder Fortson) mit den Widrigkeiten der Pubertät durch eine generationenübergreifende Perspektive ergänzt, die auch die Erfahrungen von Mutter und Großmutter beleuchtete. Und da diese Anpassungen das Endergebnis noch reicher, berührender und lustiger machten, kann man davon ausgehen, dass der Klassikerstatus nicht mehr lange nur auf die Buchvorlage beschränkt sein wird.

4. Godzilla: Minus One

2023 war ein unerwartet befriedigendes Jahr für alle Fans des Königs der Kaiju. Zunächst zeigte die Apple-Serie Monarch: Legacy of Monsters, dass es auch in Hollywood Raum für nuancierte Annäherungen an das Godzilla-Universum gibt, die über die Krawallspektakel mit Kong und Konsorten in den aktuellen US-Blockbuster-Interpretationen hinausgehen. Und dann demonstrierten zum 70. Geburtstag der Franchise auch die japanischen Toho Studios nochmal eindrucksvoll, dass ihre Gojira-Versionen Tokio in Schutt und Asche legen kann wie keine anderen. Godzilla: Minus One wirkte nicht nur durch sein Setting unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wohltuend retro und realitätsverbunden: Ein Historiendrama/Katastrophenthriller mit sozialkritischen Untertönen und nachvollziehbaren menschlichen Schicksalen, die nicht nur als Hintergrundrauschen für die obligatorischen Echsenexzesse dienten. Dazu Actionsequenzen, die zwischen Bombast und Realismus balancierten und einen so tief in den Kinosessel drückten, wie es kein anderer Blockbuster dieser Saison vermochte. Und Godzilla himself war lange nicht mehr so sehr brachiale Naturgewalt wie hier.

3. Killers of the Flower Moon

Wo andere Regiegrößen seiner Generation sich bestenfalls noch mit der routinemäßigen Verwaltung ihres Œuvres beschäftigen, brennt es Martin Scorsese in seinen Alterswerken noch fühlbar unter den Nägeln. Das zeigte sich bereits 2019 in seinem Mafia-Abgesang The Irishman, der sich konsequenter und intensiver als sein früheres Schaffen mit Themen wie Schuld und Reue auseinandersetzte. Und das war auch in diesem Jahr ganz besonders deutlich zu spüren: in diesem epischen wie irrsinnig intimen Western-Drama über die Ermordung ungezählter Bewohner der Osage Nation in den 1920er Jahren – durch gierige Weiße, die es auf ihr Öl abgesehen hatten. Für Killers of the Flower Moon hatte der 81-Jährige den titelgebenden Tatsachenroman von David Grann, der die Grundlage für diesen facettenreichen, aufrichtig wütenden Film bildete, gleichsam auf den Kopf gestellt. Nicht mehr die Ermittlungen des ganz frühen FBI standen im Mittelpunkt der Erzählung, sondern die Verbrechen und vor allem ihre Opfer – exemplarisch vermittelt durch eine herzzerreißende, unbeschreiblich grausame Geschichte von Liebe und Verrat. Mit dem Pinsel eines Ehedramas hat Scorsese ein erschütterndes Sittengemälde auf die Leinwand gezaubert und damit eine uramerikanische Tragödie auf einer beklemmend persönlichen Ebene kontextualisiert. Und weil er dies mit Absicht in aller Ausführlichkeit tat, sorgte er auch dafür, dass man nicht wegschauen konnte.

2. Oppenheimer

Danke Barbenheimer! Ohne die Terminkollision mit Barbie (einem Werk, das bei allem Corporate Whitewashing, das die Agenden des Feminismus unverschämt vereinnahmte, voll mit originellen Einfällen und herrlichen Szenen war) wäre Christopher Nolans jüngster Streich kaum zu einer solchen popkulturellen Sensation geworden. Aber so fanden doch einige mehr als sonst für einen Film über Entstehung und entsetzliches Erbe der Atombombe ihren Weg in die Lichtspielhäuser. Vielleicht ja sogar in ein IMAX, wo die durch Mark und Bein gehende Sequenz des Trinity-Tests erdrückend eindrucksvoll vor Augen und Ohren führte, was einen Kinobesuch ausmacht. Oppenheimer überzeugte indes nicht nur mit fulminantem Spektakel. Teils Biopic über eine mythenhafte Figur, teils Thriller, teils Moralstück, teils Gerichtsdrama lieferte dieses überbordende, präzise Epos in jeder Sekunde seiner ausführlichen Laufzeit exzellente Ideen, unglaubliche schauspielerische Darbietungen und inszenatorische Glanzleistungen. Trotz des weitläufigen Geflechts aus nichtlinear miteinander verwobenen Erzählebenen und einer Vielzahl von Charakteren war der Film nie überladen – vielmehr wirkte die politische Sprengkraft, die sich allmählich aus der Komplexität herausschälte, beängstigend zeitlos.

1. Poor Things

Es ist so unheimlich wie bemerkenswert, wie sich Yorgos Lanthimos mit jedem seiner Werke weiter selbst übertrifft und immer noch Größeres und Gewaltigeres schafft, ohne auch nur die geringsten Zugeständnisse zu machen. Von Dogtooth über The Lobster bis hin zu The Favourite wurde das Schaffen des griechischen Filmemachers immer gewagter und formvollendeter – um nun mit Poor Things seinen (vorläufigen) Höhepunkt zu erreichen. Wieder mit der brillanten Emma Stone – wohl das Traumduo aus Schauspielerin und Regisseur der Gegenwart – hat er mit dieser herrlich spinnerten Verschmelzung aus Pygmalion-Remix und perversem Märchen den bislang grandiosesten Film seiner Karriere geschaffen. Und dieses Jahres obendrein. Poor Things folgte der wundersamen Reise einer jungen Frau, die von einem verrückten Wissenschaftler durch die Implantation eines Babygehirns wieder zum Leben erweckt wurde. Der Film zeigte, wie sich Bellas anfangs kindliche Psyche allmählich in die einer Erwachsenen verwandelte, während sie gleichzeitig noch von Männern um sie herum bevormundet und kontrolliert wurde. Wie sie als „unvollkommener, experimentierfreudiger Mensch“ allmählich begann, die Freuden der Sexualität in vollen Zügen zu genießen und parallel ein umfassenderes Verständnis der Welt zu entwickeln. Und es zeigte (und feierte), wie sie zu guter Letzt, nach einigen verblüffenden Wendungen, ihre Unabhängigkeit erlangte. Lanthimos erzählte diese Befreiungsgeschichte mit Lust an kühner visueller Opulenz als exzentrisches Kulissen- und Kostümfurioso – und ließ aus dem moralischen Erwachen der Heldin schließlich sogar eine für seine Verhältnisse erstaunlich lebensbejahende Sicht auf die Welt sprießen. Auf subtil subversive Weise vermittelte uns diese feministische Parabel über das Begehren und ein ungezügeltes Leben die Überzeugung, dass die meisten von uns fähig und willens sind, das Gute und Schöne zu sehen und danach zu streben. Eine Botschaft, die am Ende dieses Jahres nicht von größerer Relevanz sein könnte.