Die alptraumhafte, absurd ambitionierte, anstrengende Odyssee eines Nervenbündels: Ari Aster verbindet in seinem epischen dritten Film Horror, Humor und Heldenreise auf so überbordende wie überfordernde Weise.

Darum geht’s: Zu behaupten, Beau Wassermann (Joaquin Phoenix im souveränen Sad-Boy-Modus) habe mit dem Leben abgeschlossen, hieße, die tristen Tatsachen grundlegend zu verkennen oder gar auf den Kopf zu stellen. Schließlich hat Beau Wassermann noch gar nicht so recht mit dem Leben angefangen. Ein Großstadtneurotiker in Reinkultur ist dieser Mittvierziger, ein sanftes, gutmütiges, aber in seiner emotionalen Entwicklung früh steckengebliebenes Nervenbündel, das seit jeher vor allem und jedem Angst hat, besonders davor, seine dominante Mutter Mona (Patti Lupone) zu enttäuschen – und deshalb natürlich völlig unfähig ist, auch nur die elementarsten Entscheidungen zu treffen. Denn es kann und wird immer etwas schief gehen – so lehrt es Beau seine jahrelange persönliche, eventuell auch rein eingebildete Erfahrung. Er muss sich ja bloß anschauen, was sich da vor der Haustür seines Apartments abspielt: Apokalypse und Anarchie wie in einer dystopischen Fantasie herrschen dort, mit marodierenden, grimassierenden, gar mordenden Walking Dead an allen von Müll und Leichen gesäumten Straßenecken – da wird selbst der kurze Gang zum Greißler zum Höllentrip.

Doch auch in den eigenen vier Wänden scheint das Grauen allmählich Einzug zu halten: Schilder im Flur weisen lapidar auf eine tödliche Spinne hin, kleine Zettel, die Beau spätnachts durch die Wohnungstür geschoben werden, fordern ihn wiederholt auf, endlich die Musik in seiner Bude leiser zu stellen. Welche Musik eigentlich? Beau versucht doch seit Stunden vergeblich, seit Stunden einzuschlafen, schließlich steht am nächsten Morgen anlässlich des Todestages seines Vaters eine Reise ins Elternhaus an. Aber, oy vey: Zwei, drei, vier weitere groteske Schicksals-Eskalationen und überaus unheilvolle Umstände (zu unterhaltsam/unbehaglich, um sie hier vorwegzunehmen) später hängt Beau natürlich schon am Hörer, um der hörbar ernüchterten Mona zu verklickern, dass sich das mit der Heimreise nicht ausgehen wird. „You’re fucked”, um die Worte zu paraphrasieren, die der selbsterklärte Unglücksrabe an anderer Stelle eben noch vom Hausmeister an den Kopf geworfen bekommen hat. Und so gesellt sich zur allgegenwärtigen Angst unverzüglich deren nicht minder belastende Begleiterin: die Schuld. Diese steigert sich endgültig ins Unerträgliche, als Beau kurz nach dem Telefonat erfahren muss, dass seine Mutter in der Zwischenzeit bei einem bizarren Unfall mit einem Kronleuchter ums Leben gekommen ist … Er muss sich nun also doch auf die Socken machen  – und zwar unverzüglich. Denn jeder Moment, den er jetzt noch wartet, macht ihn zu einem noch schlechteren Sohn. Und so beginnt eine Heldenreise der wirklich ganz speziellen Art …

Richtig gelesen: Das soeben beschriebene, bereits mit Gedankenstartern sonder Zahl gefüllte Szenario war gerade einmal der erste Akt. Die weitere Handlung an dieser Stelle im Detail zu schildern, kommt nicht nur wegen der gängigen Spoiler-Etikette, sondern auch unter dem Aspekt einer halbwegs vertretbaren Textlänge freilich nicht wirklich in Frage. Schließlich passiert in den epischen drei Stunden, in denen Beau bibbernd durchs Land, wie gedanklich in die Vergangenheit reist, wirklich eine ganze Menge – und es kommt dabei reichlich Beklemmendes und Erhellendes, Wahrhaftiges und Wahnsinniges, Trostloses und mitunter auch Banales bildmächtig zum Vorschein. Doch so unerschrocken wie sich die Handlung dann nach dem fantastischen Einstieg auch noch von einem rest-konventionellen Narrativ löst, dabei ästhetische Ausflüge in die surrealen Welten Michel Gondrys ebenso unternimmt wie inhaltliche Abstecher in die Gefilde des Gondry-Spezls Charlie Kaufman (dessen Synecdoche, New York hier fix Pate stand), kommt man nicht umhin, sich öfter als erhofft dabei zu ertappen, wie man auf die Uhr schaut oder sich etwas ausgelaugt unabsichtlich vom Leinwandgeschehen distanziert. Auch das ambitionierteste Ideenfeuerwerk hat ein gewisses Ermüdungspotenzial, wenn es einen ganzen langen Abend lang gezündet wird. Und auch nicht jedes aufsehenerregende, am (Alp-)Traum-Triumvirat Franz Kafka, Woody Allen und Sigmund Freud geschulte Anzapfen des Unterbewusstseins birgt automatisch immer nur Gehaltvolles.

Das heißt natürlich nicht, dass Regisseur Ari Aster, der in den letzten Saisonen mit den beiden im weitesten Sinne dem Horrorgenre und seiner Dynamik nahestehenden Großtaten Hereditary und Midsommar den Durchbruch schaffte, mit seinem ambitioniertesten und auch teuersten Film nicht für viele herausragende und unter die Haut gehende Momente zu sorgen wüsste – ganz im Gegenteil. Man muss sich Beau is Afraid dabei wohl als das genaue Gegenteil von KI-gebasteltem Gebrauchspop vorstellen: als ultrapersönlichen, gerne auch selbst- und exzessiv-verliebten, in Länge wie Lautstärke unverhältnismäßig ausufernden Konzept-Prog-Rock mit stellenweise abenteuerlichen Geistesblitzen und zahlreichen nachhaltig im Gedächtnis bleibenden Momenten erschütternder, komischer, bizarrer Natur. Wenn man wie Aster als Künstler allerdings bis dato zuvorderst für Punk oder Post Punk geschätzt wurde, ist freilich mit Reibungsverlusten zu rechnen.

Besondere Beachtung: Ein Name hier, eine Reklame dort: Beau is Afraid ist vollgepackt mit Easter Eggs, zotigen Wortspielen und (auch mal eher platten) Witzen – man muss nur genau hinsehen, um zu erkennen, was sich im Hintergrund oft an mehr oder auch weniger Humorvollem abspielt: Die Peepshow in Beaus Erdgeschoss heißt Erection Injection, an den Wänden finden sich Konzertplakate von Bands wie Murder By Fuck, im TV wird vor dem „Birthday Boy Stab Man” gewarnt. Und wem würde bei der Tiefkühlmahlzeit „O’Loha“, die das „Beste von Hawaii and Irland“ verspricht, nicht das Wasser im Mund zusammenlaufen? Ähm …

Koordinaten: Synecdoche, New York; Hereditary; I’m Thinking of Ending Things; Manhattan

Anschauen oder auslassen? Anschauen. Wenn auch unbedingt unter Vorbehalt und auf eigene Gefahr – siehe oben. Die subjektiven Schauererfahrungen dürften hier so weit auseinander liegen wie bei keinem Werk seit gefühlt Charlie Kaufmans I’m Thinking of Ending Things. Ja, Asters exzentrischer, ehrgeiziger dritter Film ist angetreten, die Gemüter – vor allem wohl jene der Horrorfilmpublikums – bewusst zu spalten. Gut möglich freilich, dass wir, wie der große Martin Scorsese unlängst euphorisch prophezeite, in einigen Jahrzehnten von Beau is Afraid als einem zunächst sträflich unterschätzten Meisterwerk à la Stanley Kubricks Barry Lyndon sprechen werden. Time will tell!