In der Gap-Podcast-Kolumne geht es diesmal um den jüngsten dokumentarischen Geniestreich von Laura Poitras: eine aufrüttelnde Auseinandersetzung mit der Ausnahmekünstlerin Nan Goldin und ihrem Kampf gegen Big Pharma.

Holla, die Hirnschmelze ist zurück. Nix, echt gar nix gelernt aus dem letzten Kolumnenkampf mit der ja nicht immer ganz ehrenwerten Lydia Tár. Ganz ohne Not, aber eben bedingt durch eine unüberwindbare Notwendigkeit, wieder bei einem Filmthema gelandet, das ob seiner Komplexität und Intensität kaum in vernünftiger Weise zu bändigen scheint. Ein Film, der mit Vorsatz und Vergnügen everything everywhere all at once sein möchte, um aus vielen unterschiedlichen Perspektiven und auf mehreren Ebenen eindrückliche Erkenntnisse zutage fördern zu können. Herrje. Aber auch: hurra. Also: hallo, All the Beauty and the Bloodshed! Vermutlich ist es am naheliegendsten, in diesen Text auf die gleiche Weise einzusteigen, wie die protestierende Meute in den Anfangsminuten des Films in das Metropolitan Museum of Art: mit der Tür ins Haus fallend, im Schlepptau einer Rädelsführerin, der es an Überzeugungskraft und Charisma nun wahrlich nicht mangelt: Nan Goldin.

In der neuen Arbeit der hochdekorierten Doku-Koryphäe Laura Poitras (Citizenfour) hängen wir nun mit Goldin, einer der bedeutendsten Fotokünstlerinnen und prononciertesten Aktivistinnen der Gegenwart, in den heiligen Hallen von „The Met” ab. Im Ohr lauthals skandierte Slogans à la „Sacklers lie! Thousands die!“, werden wir gleich eingangs einiger elementarer Einsichten dieses Films gewahr. Zum einen: Wer denkt, Kunst könne komplett losgelöst von der Welt, in der sie entstanden ist, existieren, nimmt in Kauf, dass auch böse Kräfte sich mit ihrer Hilfe reinwaschen können. Zum anderen: Wer glaubt, dass die kritische Auseinandersetzung mit Big Pharma beim wohlfeilen Winseln selbstgerechter Schwurbelmassen enden muss, sollte in den folgenden zwei Stunden besser etwas genauer hinsehen.

Kreuzzug gegen Pharmasippe

Aber alles der Reihe nach. Wer sind denn überhaupt die eben genamedroppten Sacklers? Nun ja, sagen wir es so: Wenn ruchloser Raubtierkapitalismus ein Gesicht hätte, dann würde er diesem Clan zum Verwechseln ähnlich sehen. Stehen die Sacklers doch hinter Purdue Pharma, jener Firma, die Mitte der 90er das Schmerzmittel Oxycontin auf den Markt brachte, wohl wissend um das enorme Suchtpotenzial der Droge. Während sich Raymond Sackler und Co also dumm und dämlich dran verdienten, dass sie die Opioid-Epidemie vorsätzlich anheizten und dabei die Abhängigkeit von Millionen und den Tod von Hunderttausenden billigend in Kauf nahmen, kultivierten sie vor der Weltöffentlichkeit ein großspuriges Patronat und pumpten riesige Summen in die Top-Museen der Welt. Darunter nicht wenige, in denen Werke von Nan Goldin zu sehen sind, die selbst eine heftige Oxy-Sucht hinter sich hat. Weshalb sie es irgendwann mal als eine ihrer Lebensaufgaben betrachten sollte, Kraft ihres Status einen Kreuzzug gegen die pseudo-philanthropische Pharmasippe zu führen. Um diese im besten Fall auch vor Gericht zu bringen. Es gibt eben Situationen, in denen man es den Betroffenen schuldig ist, das Persönliche zum Politischen zu machen. Besonders dann, wenn man selbst zu den Betroffenen zählt.

Unermüdliche Kamera

Um verstehen zu können, warum es just diese Angelegenheit ist, die die Künstlerin – abseits ihrer eigenen Abhängigkeit – so antreibt, muss man sich nur, wie Poitras, Goldins Lebensgeschichte ansehen, ihre Perspektive auf ihr Umfeld einnehmen, das sich meistens aus Marginalisierten, Übersehenen, Entrechteten zusammensetzt. Zu den Ausgestoßenen gehört sie schließlich selbst seit ihren traumatischen Teen-Tagen: Als Nan grade mal 11 ist, bringt sich ihre ältere Freigeist-Schwester um, woraufhin die Eltern ohne Not den Schock verdoppeln, indem sie ihre andere Tochter in eine Pflegefamilie stecken. Dem Coming-of-Age in der klaustrophobischen Suburbia kann die junge Rebellin irgendwann dank Gleichgesinnter entfliehen. Endgültige Befreiung verspricht schließlich das Eintauchen in die queere Subkultur im Downtown New York der 70er. Wo sich Goldin denn auch bald mit rohen, intimen Schnappschüssen von Menschen am Rande der Gesellschaft einen Namen machen sollte. Der alltägliche Abgrund bleibt derweil freilich ein fieser Begleiter: Ein Liebhaber schlägt sie krankenhausreif, die Aids-Krise dezimiert ihren Bekanntenkreis binnen kürzester Zeit drastisch. Zum Glück ebenso ein Begleiter in diesen Tagen des Unheils: ihre Kamera, die Goldin unermüdlich auf sich und ihre Welt richtet, ja, richten muss. Eine Welt, in der Sex (Work) und harte Drogen an der Tages- und vor allem Nachtordnung stehen, aber eben auch Liebe, Gemeinschaft und Zusammenhalt.

Quasi unumgänglich, dass Goldins ungeschönte Porträts des echten Lebens früher oder später mit selbigem zu korrespondieren beginnen: Beispielhaft hierfür ihre legendäre, in der US-Öffentlichkeit heftig skandalisierte Ausstellung über die HIV-Tragödie – wenn man so will, die Geburtsstunde ihrer aktivistischen Berufung, die schließlich im Infight mit den schamlosen Sacklers ihren erbitterten Endgegner finden wird. Einst ausgezogen, ihre kleine Welt um sich herum einzufangen, geht es der Meisterfotografin längst darum, die große Welt zu einer lebenswerteren zu machen. Den einfühlsamen wie rastlosen Blick auf ihr Rundherum setzt sie dabei stets als ihre wirkungsvollste Waffe ein.

All das und noch sehr viel mehr, für das hier leider kein Platz mehr ist, führt uns All the Beauty and the Bloodshed in staunenswerter Weise vor Augen. Ja, es ist, wie eingangs erwähnt durchaus fordernd, aber eben auch fucking faszinierend, wie Laura Poitras in ihrer (ja leider nicht oscarprämierten!) Arbeit eine sehr persönliche Geschichte mit einer ausschweifenden Abhandlung über Kunst, Kapitalismus und Politik kurzschließt. Um dabei eben buchstäblich Schönheit im Blutvergießen zu finden. Mit anderen Worten: Jede der beiden Herangehensweisen hätte einen herausragenden Film hervorgebracht, aber erst ihre so kunstfertige wie tiefgründige Verschränkung macht diesen Film zu einem Schlüsselwerk des zeitgenössischen Dokumentarkinos.

[Geschaut: Im Rahmen der Viennale 2022]