Die Gap-Podcast-Kolumne widmet sich in aller gebotenen Ausführlichkeit dem alles überstrahlenden Filmkunstwerk dieser Awards-Season: Todd Fields undurchdringbarer, radikaler, endlos faszinierender Göttinnendämmerung.

Jetzt ist es mir also tatsächlich passiert. Es geschah ohne Vorsatz, sogar unbewusst, war letztlich aber nicht zu vermeiden. Dies hier ist also, wenn man denn so will, die erste Kolumne, die unmittelbar an die letzte anknüpft, die den seinerzeit ausgelegten Faden sozusagen geradeswegs aufnimmt, um ihn direkt weiterzuspinnen. „Ein Film, der es nicht bloß anregt, sondern nachgerade einfordert: das retrospektive Reflektieren, Räsonieren, Diskutieren“, war in der vergangenen Ausgabe am Ende der Betrachtungen zu The Banshees of Inisherin, einem „der größten Filme der Spielzeit 2022“ (siehe dazu auch die Screen Lights-Jahres-Charts), zu lesen. Berühmte letzte Worte? Von wegen.

Denn in der Zwischenzeit hat sich nicht nur ein Werk gefunden, das der besagten Glanztat von/mit dem Trio McDonagh/Farrell/Gleeson auf Augenhöhe zu begegnen versteht, nein, selbiges ist auch mindestens genauso gut geeignet, im Nachklang für hitzige Debatten zu sorgen. Wobei das noch eine Untertreibung ist: So wie Tár angelegt und umgesetzt ist, zielt er nachgerade darauf ab, es sich im Minenfeld kontemporärer Diskurse ungemütlich zu machen.

Fixstern Cate Blanchett

Mit nicht geringer Lust an Konfrontation und Irritation pirscht sich Regisseur Todd Field an heikle Themen des Kulturbetriebs heran, die längst auch weit über dessen innere Kreise hinaus mächtig Wellen schlagen: Geniekult, Hybris und Missbrauch, Bubble-Betriebsblindheit und Konsequenzen-Kultur. Tár betreibt jenes Pirschen jedoch mit Konsequenz und Eleganz beharrlich aus Richtungen, aus denen man es nicht vermutet hätte, und führt uns dabei, volle Aufmerksamkeit abverlangend, zu häufig ebenso unerwarteten, unter Garantie lohnenden Reflexionen.

Er ist damit gleichwohl ein Film, wie er kaum besser in unsere Zeit passen könnte. Aber auch ein Film, der einen dabei stets von Neuem herausfordert, der verunsichert und dazu geeignet ist, allfällige blinde Flecken in der eigenen Welt-Wahrnehmung anzuzeigen. Ein Film, pickepackevoll mit Szenen, die zunächst vollkommen eindeutig und erklärbar erscheinen, deren komplette Bedeutung dabei aber oft nur schwer zu greifen ist. Ein Film, der sich dabei dennoch so real anfühlt, dass man sich nach dem Abspann kaum noch eine Welt vorstellen kann, in der Lydia Tár, also jene Person, die dieser schattenhaften Story als Fixstern und unmoralisches Zentrum dient, nicht auch tatsächlich existiert.

Eine bemerkenswerte Leistung, die ihren Ursprung freilich nicht allein in Fields nüchterner wie elektrisierender Inszenierung hat. Denn nicht nur ob ihrer Präsenz in so gut wie jeder einzelnen Einstellung des Films ist Tár mehr oder minder ein einziger großer Showcase für Cate Blanchett und ihre Fertigkeiten. Diese vermochten noch selten so gleißend hell zu strahlen wie in dieser Verkörperung einer bahnbrechenden, charismatischen, lesbischen Dirigentin, die eine der einflussreichsten Positionen einzunehmen verstand, die ihre Profession zu bieten hat.

Mit großen Dosen von Talent, Intelligenz und Selbstbewusstsein brachte es Lydia Tár zu Rang und Namen. Die Rollenmodelle ihrer Helden (nach -innen sucht man lang und vergeblich) zu diesem Behufe zum Vorbild nehmend, beschreitet sie kühl und kontrolliert den vorgezeichneten Weg eines Genies in die Geschichtsbücher – leider auch mit all den gängigen, unerfreulichen Nebeneffekten. Bemisst Tár doch wie so viele ungute Typen vor ihr alles Zwischenmenschliche rein nach dem transaktionalen Mehrwert – und macht dabei vor reichlich unangemessenen Beziehungen zu weit weniger mächtigen Menschen noch lange nicht Halt. Wo ein solches Vorgehen in der Vergangenheit ihrer Vorbilder meist noch stillschweigend geduldet wurde, kann es in einer hyperalerten Gegenwart jedoch nur im Untergang kulminieren. Selbst oder gerade dann, wenn man sich für unantastbar hält.

Die schwelende Panik der Protagonistin davor, dass Details jener Übertretungen publik werden, durchzieht diesen polymorphen Film, der zwischen Thriller, Hochkultursatire, Charakterstudie, mitunter Horror die unterschiedlichsten Klänge und Rhythmen anzuwenden vermag, ohne es sich je in einem einzigen durchgängigen Modus Operandi behaglich einzurichten. Und behaglich will es sich Field entsprechend auch bei den Antworten auf die brennenden Fragen nicht machen: So kompliziert, vielschichtig und faszinierend undurchdringbar wie die Kunst, die Lydia mit allen Kollateralschäden mehr als alles andere liebt, präsentiert sich auch dieses nahezu Kubrick‘sche Epos, das den alleraufgelegtesten Impulsen widerstehend seine Protagonistin weder als Monster noch als Opfer zeichnen will.

Selbstauslöschung im Sinne der Kunst?

Die nuanciert trügerische Manier, mit der Field und Blanchett uns das immer noch ein wenig übler entgleisende Geschehen durch den hochgradig subjektiven Tunnelblick der Protagonistin erleben und erfühlen lassen, legt stark nahe, dass sie Substanzielleres im Sinne hatten, als zu allzu wohlfeilen Schlussfolgerungen zu gelangen. Vielmehr stellt Tár lieber die Mechaniken der Macht und ihrer Missbrauchsmöglichkeiten in Frage – ohne Sympathien einzufordern: Was macht Macht mit einem, mit der eigenen Psyche? Und was ihr Verschwinden? Was, wenn die Reaktion auf den angekündigten Verlust von Kontrolle und Privileg in der radikalen Variation des Paradigmas von der Trennung von Kunst und Künstlerin läge – in der Trennung der kreativen Persona vom Rest-Ich, in der Selbstauslöschung im Sinne der Kunst? Eine Zuspitzung, eine Zumutung. Es sind genau diese seltsamen, irritierenden, faszinierenden Töne, die Tár zu einem Erlebnis machen, das man noch lange über die nächste akute Empörung hinaus mit sich herumtragen wird.