Das goldene Dutzend der Film-Saison bescherte uns indische Ultra-Spektakel, irische Seelenvermessungen, ungezügelten Multiversums-Wahnsinn und – we kid you not – ausgedehnte Colin-Farrell-Festspiele.

2022: Das Jahr, in dem das Blockbuster-Wesen endlich vollends genesen sollte – so zumindest Plan und Theorie. Und zumindest beim größten Kassenschlager der Saison, dem in den letzten beiden Jahren vielfach verschobenen Top Gun: Maverick gelang die Übung auch – kein Film spielte heuer weltweit mehr ein als der infantile Air-Force-Porn. Als nicht mehr ganz so zugkräftig wie früher erwiesen sich freilich die üblichen Comic-Kino-Produkte von Marvel und DC, die zwar zumindest im Falle von Doctor Strange in the Multiverse of Madness immer noch an der weltweiten Milliarden-Dollar-Marke kratzen, in jenem von Black Adam aber auch schon mal einen gröberen Bauchfleck hinlegten.

Was aber noch leichter zu verkraften ist als all die teilweise schmerzhaften Box-Office-Abstürze, die das im Mid-Budget-Bereich beheimatete Autorenkino mit Filmen wie The Northman von Robert Eggers, Babylon von Damien Chazelle oder Three Thousand Years of Longing von George Miller hinnehmen musste. Leider nur allzu denkbar, dass selbst solche kanonfähigen Prestige-Produktionen für ein eher erwachsenes Publikum zukünftig gänzlich von der Leinwand in den Stream abwandern werden – wie das ja auch heuer bereits mit den neuen Arbeiten von Richard Linklater, Guillermo del Toro, Noah Baumbach oder Alejandro Gonzalez Iñárritu erneut mehrfach der Fall war. Aber wollen wir uns nicht weiter von der Logik des Einspielergebnisse und schon gar nicht von jener des vermeintlich allmächtigen Algorithmus lenken lassen, sondern uns lieber von jeder Verwertungslogik unabhängiges Fest für all jene Filme feiern, die heuer einfach zu inspirieren oder gar zu überwältigen wussten: 12 unbedingte Empfehlungen aus ebenso vielen (wieder wunderbaren) Monaten des weltweiten Filmschaffens.

P.S.: Wie bei den Serien auch hier der Hinweis, dass manche hier vielleicht vermisste filmische Glanztat schon in der entsprechenden Liste aus dem letzten Jahr Unterschlupf gefunden haben könnte.

12. Marcel The Shell With Shoes On

Wenn Good Old Pixar uns nun schon zum wiederholten Male im Regen stehen lässt (was ist da los, Corporate Overlord Disney?) in puncto neuer schlauer wie herzerwärmender Animations-Präsente, dann muss eben jemand anderer einspringen. Leute wie Dean Fleischer-Camp und Jenny Slate etwa, die mit dieser Kino-Wiederbelebung ihrer schrägen Stop-Motion-Kurzfilme, die vor mehr als zehn Jahren mal virale Hits waren, den lustigsten und gehaltvollsten Erwachsenen-Kinderfilm des Jahres hinbekommen, also quasi einen klassischen Pixar hingelegt haben. Damals wie heute im Mittelpunkt des Marcel-Geschehens: die Titel-Muschel mit ihren kleinen Sneakern und ihrem großen Mitteilungsbedürfnis. Hinreißend synchronisiert von Slate verbringt Marcel seine Tage in einem Airbnb-Apartment, in dem nun der Filmemacher Fleischer-Camp eine Doku über seinen Freund aus einstigen Hype-Zeiten drehen möchte. Alles also ziemlich meta hier, und naturgemäß auch: ziemlich niedlich. Aber eben nicht nur: Während die kleine Plaudertasche amüsante Bonmots über ihr Minileben und all die Tricks, mit deren Hilfe sie überlebt, zum Besten gab, legte dieser Film Anekdote nach Anekdote sein im Grunde wehmütiges Wesen frei, dankenswerterweise ohne dabei in die Falle der Rührseligkeit zu tappen. Weil immer klar war: Die Bittersweet Symphony des Lebens, sie ist dazu angetan, einem fortwährend aufs Gemüt zu schlagen – am raffiniertesten begegnet ihr, wer sich nicht an das Gestern klammert, sondern lieber dem Morgen frohen Mutes die Hand reicht. Gilt für Mensch wie Molluske gleichermaßen.

11. Aftersun

Allzu viel scheint hier ja nun wirklich nicht zu passieren, dachte man sich da bei der Erstsichtung von Charlotte Wells‘ subtilem, sensiblem Spielfilmdebüt zunächst noch. Das wollte, wie es schien, bloß einen Mittelmeer-Urlaub eines geschiedenen Vaters (Paul Mescal) und seiner Pre-Teen-Tochter (eine Entdeckung: Frankie Corio) in den 90er Jahren (Soundtrack-Zeitkolorit deluxe) einfangen: Lange Stunden am Pool, Tagesausflüge, Quality Time, bevor bald die Schule wieder losgeht. Dass das Trügerische dieses ersten Eindrucks nicht mit einem einzigen dramatischen Donnerschlag kenntlich gemacht und aufgebrochen, nichts ausdrücklich erklärt oder ausgesprochen wurde, man diesem kaum fassbaren, unaufgeregt dahinfließenden Erinnerungsspaziergang vielmehr selbst auf halber Strecke entgegenkommen musste, um die Risse in der sonnengetränkten Idylle erkennen zu können, zählte zu den herausragenden Qualitäten dieser feinsinnigen Vermessung von Unschuld, Nähe und Verlust. Und derart durfte sich hinter all der in ein verträumtes Erscheinungsbild verpackten Momentaufnahmen-Poesie schließlich eine herzzerreißende emotionale Brisanz auftun, die einem schon mal den Atem rauben konnte.

10. Saint Omer

Gerichtssaaldramen: Zumindest für den Schreiber dieser Zeilen eines der schwierigsten Genres – weil bei aller ausgestellter Bedeutung der Deus-ex-Machina-Entwicklung zum Ende hin in den allermeisten Fällen eben doch stets dankbar im überraschungsarmen Dienste des handelsüblich choreografierten Schemas F stehend. Absolut überzeugender Einspruch gegen diese These kam in diesem Jahr von Alice Diop. Die bislang für ihre Doku-Arbeiten geschätzte Filmemacherin nahm sich in ihrem ersten Spielfilm zwar ebenfalls eines realen Falles und anschließenden Prozesses im titelgebenden nordfranzösischen Städtchen an, tat dies jedoch auf eine so unübliche wie befruchtende Weise, die einem binnen kurzem jede Skepsis vergessen ließ. Weniger Whodunnit denn Whydunnit war diese präzise, unaufgeregte Rekonstruktion der unbegreiflichen Geschichte einer des Mordes an ihrem Kleinkind angeklagten senegalesischen Immigrantin – und es war ihr dabei auch weniger dran gelegen, die Tat selbst zu verhandeln, als die soziale Realität in einer mutmaßlich egalitären Gesellschaft abzubilden. Etwa, indem die (nie in Frage gestellte) Schuld der Angeklagten in Beziehung zu vielgestaltigen gesellschaftlichen Ungleichheiten gesetzt wurde – ohne daraus eine Absolution ableiten zu wollen. Und genau diese kontinuierliche Aura des Unfassbaren sowie das unablässige Kontextualisieren und Dekonstruieren von Begrifflichkeiten wie Wahrheit und Gerechtigkeit ließen Diops Debütspielfilm als absolut aufregende Neudeutung eines altbackenen Genres erscheinen.

9. You Won’t Be Alone

Auf einen neuen Film von Terrence Malick wartet man leider auch schon wieder seit ein paar Jahren vergeblich (das mit dem Schnitt dauert halt immer ein wenig länger …). Was aber nicht heißt, dass man heuer auf neues Meisterwerk in Malick-Manier verzichten musste – denn recht viel näher, auch in qualitativer Hinsicht, als das erstrangige Debüt von Goran Stolevski kann man dem Schaffen des ewigen Enigmas der Regiezunft kaum kommen. Vorausgesetzt natürlich, man konnte sich Malick in einem zwischen Folk- und Body-Horror, zwischen The Witch und Under The Skin angesiedelten Genre-Modus vorstellen, dem menschliche Abgründe näher sein durften als hochgeistige Sinnsuchen. Zu gleichen Teilen befremdlich und poetisch, finster und bewegend, undurchdringlich und in your face präsentierte sich diese Fabel vom bösen Fluch, der ein Kind im mazedonischen 19. Jahrhundert zur formwandelnden Hexe werden ließ, die mittels eines wahrlich ans Eingemachte gehenden Rituals erst diverse Körper (u. a. Noomi Rapace und Alice Englert haben Auftritte) bevölkern musste, um herausfinden zu können, was es heißt, Mensch zu sein. Das Leben der anderen: es hält reichlich Wunder und Wahnsinn für das eigene bereit.

8. Everything Everywhere All At Once

„A woman tries to do her taxes”: So unschuldig las sich die IMDb-Inhaltsangabe der erst zweiten Regiearbeit der beiden Daniels Kwan und Scheinert – zumindest bis der erste Trailer droppte. Selbiger stellte dann rasch klar: Ja, das stimmt. Aber: Es ist nur ein Bruchteil der Wahrheit dieses lustvoll aus allen narrativen und philosophischen Nähten platzenden Werks, das im Prinzip genau einlöste, was der Titel verhieß. Entsprechend aufgeschmissen ist aber auch, wer dessen Story auch bloß grob zusammenfassen möchte, die ja tatsächlich damit losging, dass eine schwermütige Waschsalonbesitzerin (Comeback des Jahres: Michelle Yeoh) ihre Steuern machen wollte – bloß, um binnen kurzem vor der Aufgabe zu stehen, unendlich viele alternative Universen vor dem Bösen retten und im Zuge dessen auch noch ihr eigenes Seelenheil finden zu müssen. Dazwischen, drüber und drunter gab es in diesem schwindelerregenden Meta-Sci-Fi-Trip: Martial-Arts-Showdowns, die mit Fanny Packs geführt wurden, allerlei andere Kämpfe, die mit Sex Toys geführt wurden, Hot Dogs als Finger und Bagels als weltenzerstörende Kräfte. Ja‚ er brachte einem das Köpfchen dazwischen auch mal unangenehmer als es einem lieb war zum Rauchen, dieser maximalistische Multiversums-Mayhem, der mit seinem Faible fürs übersteuert Absurde Rick & Morty gewiss näher stand als Marvel. Nachdem sich all der hyperaktive Zauber gelegt hatte, erwies sich Everything Everywhere All At Once aber auch als feinsinnige Meditation über den Sinn des Lebens, den Wert von Familie und … die Allgegenwärtigkeit von Googly Eyes.

7. Decision to Leave

Auf den ersten Blick hätte man Decision to Leave durchaus für einen archetypischen Film Noir halten können. Aber da hätte man die Rechnung ohne den südkoreanischen Regisseur Park Chan-wook gemacht, einen der großen Meisterstilisten der letzten Dekaden, der für diese nur oberflächlich betrachtet klassische Story vom Detektiv, der sich in die Hauptverdächtige seiner Ermittlungen verliebt, weit weniger offensichtliche Pläne hatte. Die berühmt-berüchtigten Tabubrüche und Gewaltexzesse seiner zentralen Werke (Oldboy, The Handmaiden) zugunsten einer noch stärker als früher schon an Hitchcock geschulten inszenatorischen Subtilität in den Hintergrund stellend hatte Park hier ein Mysterium entworfen, das man in seiner (nicht zuletzt moralischen) Komplexität zunächst kaum zu fassen kriegte. Wiederholtes Schauen lohnte sich unbedingt beim undurchdringlichsten Film dieser Spielzeit, der unter seinen überwältigenden Bildkompositionen stets neue Schichten freilegend ein hochgradig faszinierendes Porträt von Leidenschaft und Besessenheit und der gigantischen Grauzone dazwischen zeichnete, das zu gleichen Teilen ultraromantisch und fatalistisch, berauschend und beklemmend sein konnte.

6. The Batman

Während das DC Extended Universe dieser Tage unter der hoffentlich fähigen Ägide von James Gunn (The Suicide Squad) zum wiederholten Male neu aufgestellt wird, zeigte uns Matt Reeves bereits zu Beginn des Jahres, wie eine verheißungsvolle Gegenwart und gar Zukunft für einen seiner prominentesten Charaktere aussehen konnte, die sich sowohl von der legendären Nolan-Trilogie als auch von Zack Snyders Batfleck-Extravaganza kompetent freizuspielen wusste. Durch das Verwirklichen einer Vision, die sich wieder auf Batmans Wurzeln als World‘s Greatest Detective besonnen hatte, der als desillusionierter, emotional noch übler als sonst ramponierter Antiheld (Robert Pattinson, aller Ehren wert) auf stetiger Rachemission vampirgleich durch den dauerregennassen Moloch Gotham stromerte, der einem hier tatsächlich noch trostlos als bisher schon erschien. Auch weil die allgegenwärtige Korruption vor der Tür der milliardenschweren Wayne-Dynastie noch lange nicht Halt machte – wie es Paul Danos Puzzle-Psycho Riddler dem Batman in einer der bitteren Pointen dieses nihilistischen, versiert verwirrenden Film Noir in beinharter Manier zu verklickern wusste. Hier hatte es ein fesselndes, wissendes Wechselspiel aus düsterem Realismus und den artifiziellen Überhöhungsstrategien des Pulp, das uns exzellent unterstützt von einer zur allgemeinen Verunsicherung geeigneten, dann und wann auch mal gewaltig donnernden Bildgestaltung unausweichlich in die Grenzgebiete der menschlichen Psyche führte. Der klügste, stilsicherste, verstörendste Blockbuster 2022.

5. After Yang

Hätte sich zu Beginn des Jahres wohl auch niemand zu wetten getraut, dass man an dessen Ende rückblickend gleich über drei neue Filme von Colin Farrell in den höchsten Tönen schwärmen würde können. Wo der von vielen immer noch unterschätzte Ire im brillanten The Batman als Pinguin hinter jeder Menge Prosthetics noch nahezu verschwand (nicht ohne dennoch dunklen Eindruck zu hinterlassen), brachte er in den anderen beiden – gleich noch mehr dazu – in Formvollendung ausgesucht leise Töne zum Schwingen. In diesem kontemplativen Sci-Fi-Drama des US-Koreaners Kogonada (siehe auch das 2022-Serien-Highlight Pachinko) bestach er etwa mit der sanftesten, gar zärtlichsten Performance seiner Laufbahn – als Dad, der in einer nahen Zukunft versuchte, den eben dahingeschiedenen Familienandroiden wieder zum Leben zu erwecken. Um Entdeckung für Entdeckung in dessen Vorgeschichte und Innenleben einzutauchen – und dabei nicht nur zu erfahren, was diesen Yang ausmachte, sondern auch zum schmerzhaft schönen Kern dessen vordrang, was uns generell menschlich macht. Die Vergleiche mit dem Jahrhundertwerk The Tree of Life hatten unbedingt ihre Berechtigung: So beseelt, empathisch und bewegend wurde im Kino sonst nur viel zu selten zu den Themen Liebe und Vertrautheit, Erinnerung und Verlust geforscht – und schon gar nicht, während Mitski dazu eines ihrer schönsten Lieder sang.

4. The Quiet Girl

Ein stilles Werk über ein stilles Mädchen: Gemeinhin nun nicht unbedingt der filmische Stoff, dem der Buzz von allen Seiten entgegenfliegt. Und wenn darin dann noch größtenteils irisches Gälisch gesprochen wird, dann geht eine Arbeit wie Colm Bairéads Spielfilmdebüt auch gleich mal ganz unter. Was es unbedingt zu verhindern gilt, würde man sonst doch so ein echtes Juwel versäumen: Ein auf ganz leisen Pfoten erschütterndes Wuchtwerk, das im Prinzip nicht mehr als die bemerkenswert reduzierte Geschichte einer emotional vernachlässigten Neunjährigen (eine, ja, stille Sensation: Catherine Clinch), die von ihren Eltern über den Sommer zu einem entfernt verwandten Ehepaar geschickt wurde, erzählen musste. Während das verschlossene Mädchen nun nach und nach aufzutauen begann, sollte es jedoch auch erkennen, dass sein neuentdecktes Eden von einem nicht sofort sichtbaren Schleier der Tragödie umweht wurde. Ein bloßer Hauch von einer Handlung also, der aber derart poetisch, prägnant und mit sanfter, unangestrengter Eindringlichkeit erzählt war, dass man am Ende den Eindruck bekommen konnte, alles nicht nur gesehen, sondern selbst miterlebt, ja, mitgefühlt zu haben. Kino als große Empathie-Maschine: hier entfaltete der Terminus mit ganzer Kraft seine Wahrheit. Und so war 2022 Aftersun nicht der einzige unaufgeregt dahinfließende Film, in dem ein Mädchen einen ihre Sicht auf die Dinge dauerhaft verändernden Sommer erlebte – und The Banshees of Inisherin nicht der einzige, der aus der irischen Idylle profunde Erkenntnisse über die Conditio humana zu schälen verstand.

3. RRR

Der big, bold fun at the movies: Er war, bis zum Start des zweiten Avatar, auch heuer nicht notwendigerweise im eingehegten Blockbuster-Betrieb, zwischen Marvel-Reißbrett und Militär-Propaganda à la Top Gun: Maverick zu finden. Doch es gab ihn gleichwohl, man musste nur in eine andere Richtung blicken, um ihn zu finden – in den Süden Indiens etwa, wo die wunderbare Welt Tollywoods ein Schauerlebnis bescherte, das niemanden kalt ließ, der das Glück hatte, während der kurzen, dafür rauschhaft zelebrierten Kino-Laufzeit damit in Kontakt zu kommen. Denn, da gibt’s kein Vertun, es brauchte schon das enthusiasmierte Kollektiv vor einer großen Leinwand, um dieses geil maßlose und maßlos geile Feuerwerk von einem Film würdig begehen zu können. Mehr als drei Stunden lang lieferte S.S. Rajamoulis bombastischer Action-Meilenstein ein Fest für die Sinne, wie man es so noch selten gesehen hat – diesem Ultra-Spektakel rund um zwei Freiheitskämpfer wie Feuer und Wasser fand mit einem oder zwei Showdowns noch bei weitem kein Auslangen, er brauchte locker sechs oder sieben davon. Und so wurden Motorräder wie Baseballschläger geschwungen, Flüsse und Wälder brannten lichterloh, wütende Raubtiere flogen in Slow-Mo aufeinander zu, ein Dance-off für die Geschichtsbücher brachte Sohlen zum Glühen. Und dazwischen nackte Muskelmänner, die sich enragiert an die Gurgel gingen und/oder auf den Schultern des anderen sitzend zusammen in die Schlacht zogen. Over the top: ein Hilfsausdruck. Nach unten geklappte Kiefer: der Permanent-Zustand. Wer zu diesem filmischen Deluxe-Exzess nicht mindestens einmal gejohlt oder aus tiefstem Herzen Szenenapplaus gespendet hat, der hat nicht gelebt. Ein Endorphinrausch, der auf Rezept verschrieben werden sollte.

2. The Banshees of Inisherin

„I just don’t like you no more”: Das war alles, was Brendan Gleesons Colm eines schicksalshaften Tages noch für Colin Farrells Pádraic übrig hatte, nach ungezählten gemeinsamen Trinkjahren im irischen Inselkaff. Wenn das mit der einseitigen Beendigung des Buddytums bloß so einfach wäre … Und auch Regisseur Martin McDonagh (Drehbuch-Oscar für Three Billboards Outside Ebbing, Missouri) hatte in diesem Wiedersehen mit seinem Hauptdarstellerduo aus Brügge sehen… und sterben dankenswerterweise keine simplen Antworten auf die unlösbaren Herausforderungen eines existenziellen Einschnitts, wie er die Zerrüttung einer lebenslangen Freundschaft bedeutet. Umso zentraler waren deshalb die sich dazugesellenden philosophischen Fragen, die sich nun für die zwei Sturschädeln und damit uns alle auftaten, zwischen Zwergeseln und einer Handvoll abgeschnippelter Finger. Etwa diese: Was ist von größerem Wert – der Nachwelt große Kunstwerke zu hinterlassen oder den Menschen um sich herum mit Nettigkeit zu begegnen? Und: Ist die Entscheidung darüber wirklich so wichtig, dass man sich deswegen dauerhaft in die Haare kriegt, zumal vor der Kulisse des sich am Festland akut abspielenden Bürgerkriegs? Welche Erkenntnisse man letztlich auch immer aus diesem kleinen, großen Film über das unwägbare Wesen des Menschen im Allgemeinen und den unschätzbaren Wert von Freundschaft im Speziellen zu ziehen wusste: Diese abwechselnd komische wie beklemmende, intensive wie inhaltlich aufreibende Reise an die herb pittoreske Atlantikküste wird man so schnell nicht mehr vergessen. Genauso wenig wie Jenny the Donkey …

1. Tár

Nein, eine Dirigentin von Weltrang namens Lydia Tár gibt es nicht, es gab sie auch nie. Dass man es während der fast drei Stunden von Todd Fields (In the Bedroom) wahrhaft atemberaubendem Comeback jedoch jederzeit für plausibel hielt, dass die von der großen Cate Blanchett in Karrierebestform gespielte bahnbrechende Künstlerin tatsächlich existieren könnte, war der eindrucksvollste Beleg für die Meisterschaft dieses Films. Der sich streckenweise tatsächlich so real anfühlte, dass man ohne weiteres meinen könnte, das Gezeigte hätte genauso passieren können, vielleicht ja eben erst gestern. Denn so unmöglich es war, ihn genre-mäßig zu fassen – war das eher ein gefinkelt aufgebauter Thriller, eine beißende Satire, eine pointierte Hochkultur-Nabelschau, eine grausame Charakterstudie, gar Horror? – so unzweifelhaft war und ist Tár vor allem eines: ein Film unserer Zeit. Einer, der sich gegenwärtigen Debatten nicht nur stellte, sondern sie auf kontroversielle, substanzielle Art und Weise noch mal auf die Spitze trieb. Indem er die leider ewigaktuelle Geschichte von Macht und Missbrauch, von Privileg und Hybris, ja, vom Genie, das sich über allem stehend selbst nach allergröbsten Verfehlungen unantastbar wähnt, einem gewagten Gender-Remix unterzog. Um solcherart nunmehr eben die Welt einer herausragenden, selbstbewussten, lesbischen Meisterin ihres Fachs irreversibel ins Wanken geraten zu lassen, die sich in einer Domäne von Männern halt nicht nur deren Macht gesichert, sondern dabei gleich auch deren toxischsten Prädatoren-Triebe mitgenommen hatte. Dabei zuzusehen, wie Field das Jahrhunderte alte Kartenhaus der von jedweder Konsequenz befreiten Heldenverehrung mit einem Arsenal an konsequent unvorhersehbaren Mitteln, die so elegant wie provokant wie hochgradig amüsant waren, in sich zusammenkrachen ließ, entpuppte sich als das größte, das geistreichste Vergnügen in diesem erneut exzellenten Filmjahr.

Ebenfalls Erfreuliches im Schnelldurchlauf

+++ Nicht von ungefähr in Cannes mit dem Großen Preis der Jury bedacht: Close, der emotional intensive Zweitling des Belgiers Lukas Dhont über eine einen tragischen Verlauf nehmende Bubenfreundschaft. +++ Es war zweifelsohne ein außerordentlich gutes Jahr für Horror. Sowohl was hoffnungsvolle neue Talente – Zach Creggers Barbarian war bis zum leider vergurkten Finale eine der beunruhigenderen Überraschungen (und voll mit selbigen), Christian Tafdrups Speak No Evil blieb über die gesamte Laufzeit verstörend gut – als auch was die Rückkehr verdienter Gruselgaranten betraf: siehe Ti Wests bemerkenswertes Farmhouse-Schocker-Doppelpack X und Pearl. +++ Die Pandemie-Zeit bot auch Hollywood-Granden die Möglichkeit zur Introspektion. Nun wurden die Früchte geerntet – und das in großer Zahl: Von Richard Linklaters Apollo 10½ und Steven Spielbergs The Fabelmans über James Grays Armageddon Time und Alejandro Gonzalez Iñárritus Bardo bis hin zu Empire of Light von Sam Mendes stand 2022 gewiss im Zeichen der Filmemacher-Nabelschauen. Zumindest die ersten drei der aufgezählten: eindeutig empfehlenswert. +++ War bei den diesjährigen Oscars als bester internationaler, als bester Dokumentar- und als bester Animationsfilm nominiert, ging in allen Kategorien leer aus und auch sonst ein wenig unter: Nichtsdestoweniger uneingeschränkte Empfehlung für Jonas Poher Rasmussens beeindruckendes, bestürzendes Fluchtdrama Flee. +++ Wenn man einem Freigeist wie Robert Eggers (The Lighthouse) 90 Millionen Dollar in die Hand drückt, heißt das nicht unbedingt, dass dabei dann ein Kassenhit rausschaut – und so entpuppte sich der Wikinger-Wahnsinn The Northman wenig überraschend als Verlustgeschäft. Allerdings bloß in monetärer Hinsicht: der Film selbst rockte erwartungsgemäß hart. +++ Ebenso wie James Camerons gewohnheitsmäßig gigantomanischer Avatar: The Way of Water, der bei aller angebrachter Kritik am dünnen Drehbuch (but who cares?) doch wie kein anderer Film heuer für reinstes, Staunen machendes Überwältigungskino stand. +++ Sonst noch besten Gewissens empfehlenswert zwei tolle Regiearbeiten von Leuten, die sonst gemeinhin vor der Kamera stehen: Women Talking von Sarah Polley und The Stranger von Thomas M. Wright. +++