Die Großen 15 der Film-Saison boten unterschiedlich gegen den Strich gebürstete Rachefeldzüge, Reisen auf den Wüstenplaneten und in den Wilden Westen, sowie eine Begegnung mit der schlimmsten Person der Welt.

Im zweiten pandemiegeprägten Filmjahr schlug das Imperium quasi zurück. Während man sich 2020 über weite Strecken schon ein wenig Sorgen über wertigen Nachschub machen konnte, weil gar so viele Produktionen auf eine oft nicht einmal näher bestimmte Zukunft verschoben worden waren (letztlich unberechtigt, der Filmjahrgang war auch so ein würdiger), ging 2021 spätestens ab Frühsommer punkto frischer Filmstarts aber sowas von in die Vollen – und hat seitdem den Fuß auch nicht mehr vom Pedal genommen. Im Gegenteil: Die Abarbeitung des Rückstaus entwickelte vor allem in den letzten Monaten des Jahres eine sportliche Steigerung bezüglich Tempos und Intensität, die einigen Extra-Schauwillen erforderte.

Oh, süße Überwältigung, die du uns auch mal drüber hinwegschauen ließest, dass der eine oder andere Film, dem man auch schon mal ein ganzes und ein halbes Jahr entgegengefiebert hatte, das Warten wahrlich nicht wert gewesen war (hello & goodbye, 007!). Oh, süße Überwältigung, die du alte neue und tatsächlich neue Arbeiten so derart ohne Genierer aufeinander stapeln musstest, dass man vor allem im Herbst mitunter nicht mehr wusste, ob man sich lieber den wild wuchernden Programm-Angeboten der Kinos und jenen der (sich allemal auch entfesselt vermehrenden) Streaming-Portale widmen sollte – um dann meistens eh beides zu tun.

Keine allzu große Überraschung also, dass die vielen Rückblicke auf dieses so fruchtbare Filmjahr in den diversen Publikationen bisweilen so grundunterschiedlich ausfielen, dass man sich mitunter fragen durfte, ob sie überhaupt die gleichen zwölf Monate Filmschaffen als Basis hatten. Und ja, eh auch klar: Beim Hobeln dieser Bestenliste mussten heuer ebenfalls entsprechend extraviele Späne fallen – für einige besonders schöne (die die Aufnahme in anderen Jahren wohl fix geschafft hätten) gab es noch eine kurze Erwähnung im Postskriptum.

Apropos Postskriptum und Film-Basis: Für diese Liste kamen neue Werke in Frage, die 2021 auf einem der vielen zur Verfügung stehenden Kanäle geschaut wurden. Außen vor blieben Streifen wie etwa der Oscar-Gewinner Nomadland, die zwar heuer ihren offiziellen Kinostart (zumindest in hiesigen Gefilden) hatten, aber schon in der „Best of 2020“ Aufnahme gefunden hatten.

15. Annette

Sie war nur ein Teil der Adam Driver-Festspiele der vergangenen Monate (siehe The Last Duel und House of Gucci). Sie war nicht das einzige hochkarätige Musical (siehe West Side Story und tick, tick … Boom!) oder die einzige Arbeit mit prominenter Beteiligung der Gebrüder Sparks (siehe Edgar Wrights von Fan-Herzen kommende Doku The Sparks Brothers) in diesem Jahr. Ja, sie war noch nicht mal der einzige Film, der einem heuer wegen einer Puppe mulmige Gefühle bescherte (hallo, The Lost Daughter). Die Kombination all dieser Kategorien indes machte Kunstkino-Querkopf Leos Carax‘ Rückkehr in den Regiestuhl zu einem so unbeschreiblichen Vergnügen – wenn man sich denn drauf einlassen konnte. Einlassen auf ein wunderliches, fast komplett über Sparks-Songs erzähltes Showbiz-Melodrama, zum einen über die zum Scheitern verurteilte Romanze zwischen einem Stand-up-Provokateur (Driver) und einer bewunderten Opernsängerin (Marion Cotillard), zum anderen über deren Tochter Annette (verkörpert von einer, yep, Holz-Puppe), gesegnet mit einer Singstimme zum Herzen-Erweichen. Eine mit wilden Einfällen, merkwürdigen Momenten und emotionalen Achterbahnfahrten bis oben hin angefüllte Extravaganza, die man nicht nur ob der Ohrwürmer lang nicht aus dem Kopf kriegte.

14. Mass

Reduce to the max, so hieß es vor einigen Äonen mal in der Werbung. Für Schauspieler Fran Kranz‘ (The Cabin in the Woods) aufregendes, aufreibendes Regiedebüt kam einem der Claim erneut in den Sinn – holte er doch aus einem Setting, das reduzierter kaum noch vorstellbar ist, einen emotionalen Einschlag raus, der noch Tage nach dem Schauen spürbar war. Von Pro- und Epilog abgesehen spielte sich gesamte Geschehen hier in einem einzigen Raum ab – und dort wurde auch nichts anderes als: geredet. Von vier Menschen mit grauenhafter gemeinsamer Geschichte: Das eine Ehepaar hat seinen Sohn durch einen Schulamoklauf verloren, der vom Sohn des anderen Ehepaars ausgeführt wurde. Härtester Tobak, markerschütternder Stoff also, dem das imponierende Quartett vor der Kamera (Oscar fürs beste Ensemble, anyone?) und das zwingende, ergreifende Drehbuch aber Schritt für schweren Schritt einen Spin in eine Richtung gaben, die man zum beklemmenden Beginn noch nicht für möglich gehalten hätte. Mitgefühl als Entscheidung, Emanzipation durch Gnade: Mass verlangte viel. Und belohnte mit mehr.

13. The Lost Daughter – Frau im Dunkeln

Zu Beginn des Filmjahres war Olivia Colman in The Father die für ihren demenzkranken Dad gleichsam verlorene Tochter. Am Ende des Filmjahres durfte man dann darüber rätseln, was es mit der titelspendenden Tochter in der mit Colman in der Hauptrolle besetzten Verfilmung eines Romans von Elena Ferrante auf sich hat. Und man durfte lange rätseln – war diese Geschichte von einer allein in Griechenland Urlaub machenden Professorin doch ähnlich schwer zu greifen wie ihre geheimnisumrankte Verfasserin. Virtuos verschachtelte Schauspielerin Maggie Gyllenhaal in ihrem Regiedebüt die Zeitebenen, legte im Zusammenspiel aus Nicht-los-lassen-Können im paradiesischen Jetzt und hochgespülten, beiseitegeschobenen Erinnerungen (Jessie Buckley war als jüngere Version der Figur nicht minder beeindruckend) erst Schicht für Schicht eine Story frei, die so bestechend konstruiert wie emotional gehaltvoll war. Ein furchtloser, anregend ambivalenter Film über Mutterschaft, Familienbande und komplexe Gefühle, der keine einfachen Antworten und Abkürzungen liefern wollte – und erst recht keine Belehrungen.

12. The Father

Wie es sich anfühlen muss, wenn einem der eigene Verstand fortwährend furchterregende Finten schlägt, davon wussten 2021 auffallend viele Filme zu erzählen. Brillante Demenzdramen waren etwa Gaspar Noés erstaunlich erwachsenes Vortex oder die mit Jodie Comer und Stephen Graham gewinnend besetzte TV-Produktion The Help, in der obendrein das Thema Pandemie erschwerend dazukam. Aber, aber: Nur Florian Zellers Verfilmung seines eigenen Theaterstücks hatte den einen Anthony Hopkins in der Hauptrolle. Der nie weniger Hopkins war als darin – und nie besser, so wie er uns über eineinhalb beunruhigende Stunden durch das jedes Mal aufs Neue nochmal verwirrendere Labyrinth eines schwindenden Geists führte – mit allem damit verbundenem, heftigem Gefühls-Tohuwabohu. Den Oscar gab‘s für „Tony“ zwar unerwartet, aber völlig zu Recht. Und auch jener fürs beste adaptierte Drehbuch war absolut korrekt: dieser ehrliche, einfühlsame, auch faszinierende Echtleben-Horrorfilm war durchaus dazu geeignet, schon mal die eigene Wahrnehmung der Welt ein wenig ins Wanken zu bringen.

11. Red Rocket

The Worst Person in the World ist der Titel eines der hinreißendsten Filme dieses Jahrgangs (wir werden noch drauf zurückkommen) – er wäre aber auch für das jüngste Arbeit von Sean Baker passend. Im Zentrum von dessen Nachfolgefilm zum 2017er-Meisterwerk The Florida Project stand schließlich einer jener Bro-Dudes, denen man 100 Meter gegen den Wind anmerkt, dass sie Ärger für jede arme, arglose Seele bedeuten, die ihren Weg kreuzt. Dudes, die in ihrer Welt zwischen Narzissmus und Größenwahn leider auch mit so viel Charisma gesegnet sind, dass sie wissen, wirklich jeden um den Finger wickeln und mit allem durchkommen zu können. Mit solch bemerkenswerter Chuzpe ist dieser Mikey Saber (Simon Rex) ausgestattet: Ein abgehalfterter Pornostar, der nach Jahren wieder in seinem Heimatkaff aufschlug und dort Stück für Stück das Leben jedes Menschen, der mit ihm zu tun hatte, schlechter machte: das seiner Ex und ihrer Mutter, bei denen er einfach so einzog, das eines naiven Nachbarn und das einer minderjährigen Donuts-Verkäuferin, die er in der Hoffnung auf ein Comeback im Adult-Entertainment bezirzte. Dass man diesem toxischen Typen bei seinem gewissenlosen Treiben nicht nur zwei Stunden lang höchst fasziniert zuschaute, sondern gar mit ihm sogar mitfieberte, man ihm – auch wegen Rex‘ magnetischem Spiel – also selbst genauso auf den Leim ging wie alle anderen, war der größte und hinterlistigste Trick dieser ausgezeichnet tragikomischen Charakterstudie.

10. Judas and the Black Messiah

Der sehr seltsame Fall eines Films, der 2021 mehrere Oscars (sowie etliche andere renommierte Preise) abräumte, aber in so gut wie keiner Jahresbestenliste zu finden war – obwohl er erst in diesem Februar seine Premiere hatte. Statt sich aber allzu sehr darüber zu grämen, dass bei vielen offenbar direkt nach der Awards Season ein Reset-Knopf gedrückt wurde, sollte man lieber noch einmal schwärmen über Shaka Kings bewegende Rekapitulation der fragwürdigen Umstände, die 1969 zur Ermordung des charismatischen, grade mal 21-jährigen lokalen Black Panther-Vorsitzenden Fred Hampton (Daniel Kaluuya) führten. Jener war schließlich der Verrat durch den vom FBI überhaupt erst eingeschleusten Mitstreiter William O’Neal (LaKeith Stanfield) vorausgegangen – eine skandalöse Angelegenheit, die King mit unverhohlenem Befremden und Furor wiedergab, als in einen packenden, pulsierenden Thriller verpackte Moralgeschichte mit Sinn für Zeitkolorit und zwei begnadeten Performances im Zentrum. Die im Übrigen beide eine Huldigung via Academy Award verdient gehabt hätten (Kaluuya bekam ihn) – aber auch bei dem Thema wurde damals irgendwie vorschnell der Reset-Knopf gedrückt.

9. Pig

Die willkommenste Irreführung des Filmjahres. Eine Prämisse, bei der vieles auf ein John Wick-artiges Szenario hindeutete, bloß eben mit Nicolas Cage in der Rolle eines Sonderlings mit allzu großer Liebe für ein Tier und entsprechender Mission und Motivation, nachdem ihm dieses, ein Trüffelschwein, eines Tages in grober Manier genommen wurde. Doch Regiedebütant Michael Sarnoski hatte anderes im Sinne als einen über-ironischen Rachethriller mit einer Extradosis Cage Rage – und sein Hauptdarsteller extraordinaire zum Glück ebenso. In einer der besten Performances seiner sehr umfassenden Karriere verzichtete Onkel Nic nahezu ausnahmslos auf seine berüchtigten, zum Markenzeichen gewordenen Over-the-Top-Manierismen. Gedämpft, nuanciert, letztlich herzzerreißend legte er seine Figur, einen Meisterkoch, der sich „aus Gründen“ komplett aus Laufbahn und Leben zurückgezogen hat, an – und traf damit auf brillante Weise den Ton dieses bedächtigen und betörenden Dramas, das viel von Verlust und Trauer, von Akzeptanz und Erlösung wusste, das das Schöne im Menschen suchte und auch fand. Und uns eine erstaunliche finale Katharsis schenkte, die einen einfach nur umhaute.

8. Promising Young Woman

Dass in diesem Frühjahr nicht allein dieser tollkühne Twist zum Ende das hauptsächliche Thema war, wenn über den fuchsiarosen-furiosen Regieeinstand Emerald Fennells gesprochen wurde, sagt alles über die Kraft des restlichen Films aus. Und sowieso über seine verwegene Hauptfigur, an der man sich ewig und eine Minute diskursiv abarbeiten sowie kaum sattsehen konnte. Eine mit allen möglichen wie unmöglichen Wassern der Vergeltung gewaschene One Woman Army auf höchst persönlichem Feldzug gegen Date-Vergewaltiger, Pick-up-Artists und alle möglichen anderen, schrecklich netten Arschlochtypen war diese Cassandra – von Carey Mulligan in einer Laufbahnbestleitung so zwischen kochender Wut und eiskalter Berechnung angelegt, dass man sie nie richtig zu fassen bekam. Genauso wenig wie den Film um sie herum, der mal Komödie, mal Horror, mal Romanze, mal Thriller sein konnte, dabei jedoch niemals auf seine Bestimmung vergaß: Auf provokante und kompromisslose, mal beißend lustige, mal auch unerträgliche Weise vor Augen zu führen, was Frauen jeden verdammten Tag irgendwo draußen in der Welt zustößt. Unter all dem Zucker und Glitter war letztlich ein rasiermesserscharfer Reality-Check versteckt.

7. The Worst Person in the World

Folge deinem Traum! Verfolge deine Ziele! Suggeriert die Gesellschaft, propagiert ihre Werbung. Wenn das nur so leicht wäre. Zu wissen, was man eigentlich möchte im Leben, wohin man will – und mit wem. Julie (die alles überstrahlende Renate Reinsve, in Cannes als beste Schauspielerin prämiert), die in selbstironischer Manier titelgebende Hauptfigur in Joachim Triers fulminantem fünften Film, sieht die große 3 vorn in der Altersangabe gnadenlos näher rücken – und weiß zu ihrem Missfallen noch immer nicht recht, welche Abzweigung sie auf den Lebenswegen Beruf, Berufung und Beziehung einschlagen soll. Doch Triers zwischen unbeschwerter Romanze und unbefangener Komödie, zwischen Heartbreak und gar Horror wundervoll unvorhersehbare, mit glitzerndem Dialog-Lametta behängte Generationen-Studie war dankens- und ehrlicherweise gar nicht so daran interessiert, Antworten zu finden auf die Frage, wie das gute und glückliche, dabei noch möglichst rechtschaffene Leben im 21. Jahrhundert aussehen sollte. Schon gar nicht nur für eine Person. Lieber spannte sie den Bogen mit neu hinzukommenden Charakteren immer weiter, arbeitete heraus, wie widersprüchlich Wege sein können, die individuell sinnvoll scheinen – und kam letztlich auf nahegehende Weise zum ewig gültigen Schluss, dass das Leben eben weniger das erreichte Ziel ist, sondern das, was einem widerfährt, während man aus der ganzen Sache schlau zu werden versucht. Mit allen Fehlern und falschen Einschätzungen.

6. Dune

In der Blockbuster-Saison 2021 war der Wurm drin, nicht allein der anhaltend angespannten Kino-Situation wegen: Marvel trat auf der Stelle, Fast & Furious 9 wurde selbst für Fast & Furious-Verhältnisse zu absurd, Bond rutschte in der Seifenoper aus. Der Wurm war zwar auch in dieser ersten würdigen Adaption von Frank Herberts SciFi-Opus (oder zumindest eines Teils davon) drin, hier war er, wenngleich von allen gefürchtet, jedoch alles andere als fehl am Platz – eine gigantische, alptraumhafte Kreatur in der Sandlandschaft des im Zentrum des austarierten, weitschweifigen Geschehens stehenden Wüstenplaneten Arrakis. Zugleich reduziert und überbordend, beseelt und abenteuerlich fühlte sich Denis Villeneuves Kino-Kindheitstraum an – eine atemberaubende, art-mosphärische 165 Mio. $-Spice Opera mit rechtschaffenem Wumms und thematischer Wucht, errichtet auf einem überragenden Fundament aus Setpieces, Sound und Schauspiel (btw: hallo, Timothée Chalamet, A-Liga-Movie-Star). Ein genuiner Genre-Monolith, der die nächste Generation von Big-Budget-Produktionen prägen wird.

5. The Green Knight

Den Thrills der Tafelrundensage sind von Monty Python bis Guy Ritchie ja schon einige in ihren Kinofilmen erlegen (nur bei ersteren war‘s freiwillig komisch), so wild wie bei David Lowery war das Ergebnis jedoch äußerst selten – höchstens noch bei John Boorman. Der Amerikaner brachte eine belebende Außenstehenden-Perspektive in die urbritische Geschichte, mengte einen kräftigen Schuss Arthouse und Apokalypse in den Seitenstrang der Artus-Legende, der die spezielle Heldenreise des Königsneffen Gawain (Dev Patel) zum Gegenstand hat. Jene sollte den überambitionierten Jüngling zu schicksalsbeladener Letzt zum sagenumwobenen Grünen Ritter führen, der ihn als Konsequenz eines unüberlegten Abkommens um einen Kopf kürzer machen würde. Eine Frage der Ehre, auf die es keine angenehme Antwort gab. Den Weg dahin hatte Lowery so arrangiert, als ob er der Herr der Ringe-Reihe durch die Brille von Alejandro Jodorowsky (El Topo) einen neuen Teil hinzudichten wollte: als irrlichternden, surrealen Fantasy-Fiebertraum mit rumwandernden Riesen, kopflosen Geistern und sprechenden Füchsen sowie erstaunlichen Erwägungen zu den Themen Vergänglichkeit und Vermächtnis.

4. C’mon C’mon

Recht viel größer hätte der Kontrast zu seiner letzten Rolle, für die er immerhin seinen ersten Oscar einstrich, für Joaquin Phoenix kaum sein können. Er ist wahrlich kein Joker, dieser Johnny in Mike Mills‘ jüngstem generationenübergreifendem Familiendrama (siehe auch Beginners und 20th Century Women): ein umgänglicher, feinfühliger, verletzlicher Jedermann, der sich nach mancher Lebenserschütterung ganz in seinen Job als Radiojournalist zurückgezogen hat, der gerade darin besteht, Kinder im gesamten Land über ihre Vorstellungen von der Zukunft zu befragen. Bald absolvierte er diese Diensttrips aber selbst mit einem Kind: seinem altklugen neunjährigen Neffen, auf den er aufgrund einer Familienkrise aufpassen sollte. Auch die beiden würden zwangsläufig bald einiges miteinander reden – und dabei einander und sich selbst besser kennenlernen. Viel mehr passierte – eingefangen in verträumtem Schwarz-Weiß – auch schon gar nicht in diesem poetischen, unaufdringlichen Film, der aus einer Sorte Holz geschnitzt war, wie sie in Hollywood kaum verwendet wird: Ganz gegen das Klischee gab es weder den einen Moment der Erleuchtung noch wurden bahnbrechende Reden geschwungen. Es wurde bloß mit der bedeutenden Hilfe zweier Extraklasse-Performances (der junge Woody Norman, wow) eine nachhaltig berührende Story erzählt, die mitten aus dem Leben mit all seinen Herausforderungen und Wundern berichtete. So einfach kann zuweilen herausragend sein.

3. Titane

Kaum vorstellbar, dass es da draußen heuer irgendwo jemanden gab, den heuer ein Film mehr durch die Mangel genommen hat als Julia Ducournaus vieldiskutiertes Transgressions-Theater, das selbst für Leute mit einiger Körperkino-Schauroutine nicht wenige Momente bereithielt, in denen sie sich die Hände vor die Augen halten mussten. Wie ein motorölverschmierter Mutant aus Cronenbergs Crash, der Tetsuo-Reihe und dem bizarren Doku-Drama The Imposter schlug die Geschichte einer Autoshow-Tänzerin mit Titanplatte im Schädel, die das mit der Autoerotik überaus wortwörtlich nahm, schwanger und zur Serienkillerin wurde, sich auf der Flucht als erwachsene Version eines vermissten Jungen ausgab, um bei dessen Vater untertauchen zu können, zuverlässig wirkungsvolle Haken. Die sich dann auch mal maximal schmerzhaft ins Fleisch bohren konnten. Und doch war der diesjährige Cannes-Gewinnerfilm viel mehr als ein reines WTF-Stakkato oder an das Thema Identitätsfindung gekettetes Schockwert-Schaulaufen: In seinen wahrhaftigsten Momenten mangelte es Titane an Intensität ebenso wenig wie an Zärtlichkeit und Empathie – während er einem in mutiger, mitreißender Manier verdeutlichte, wie erlösend es sein kann, akzeptiert und angenommen zu werden. All Hail the New Flesh!

2. The Power of the Dog

Bei allen seinen unbestrittenen Glanztaten auf dem kleinen Schirm – von Sherlock bis Patrick Melrose – schien Benedict Cumberbatch sein enormes Potential auf der Leinwand, mit seiner Rollenwahl zwischen risikoscheuen Produkten aus der Superheldenwerkstatt Marvel und Standard-Biopics, bislang nie so richtig ausgeschöpft zu haben. Hierfür brauchte es wohl erst eine Extrakönnerin wie die neuseeländische Oscar-Gewinnerin Jane Campion (Das Piano), die mit diesem Spätwestern, ihrem ersten Film nach 12-jähriger Pause, den Nährboden für die bisherige Bestleistung des Briten schuf – indem sie ihn aus seiner darstellerischen Komfortzone holte. Komplett anders angelegt als von ihm gewohnt war sein verbitterter Rancher, der aus einem Festhalten an überholten Männlichkeitsidealen heraus allen um ihn herum das Leben zur Hölle machte. Auf Cumberbatchs nuancierter Performance aufbauend dekonstruierte Campion Genre und Rollenbilder: ausnehmend subtil, mit rasiermesserscharfer Genauigkeit, auf Andeutungen, Ambivalenzen und die Kraft von majestätischen Bildern setzend hielt sie mit den Abzweigungen der Handlung und den wahren Beweggründen ihrer Figuren genauso lang hinter dem Berg, wie es die Erzählung erforderte. Erzählerischer, inszenatorischer Goldstandard.

1. Licorice Pizza

Wenn sich jemand gefragt hat, wie Once Upon a Time . . . in Hollywood wohl ausschauen würde, wenn Paul Thomas Anderson sich des Themas angenommen hätte: Der Film mit dem seltsamen Gericht im Titel gab die Antwort. Oder wenigstens: eine Art Antwort. Denn in seinem vierten Filmabstecher in sein geliebtes San Fernando Valley stellte einer der größten Filmemacher der Gegenwart das Treiben in der Traumfabrik nicht so prononciert ins Zentrum wie Tarantino, begnügte sich vielmehr damit, es als Hintergrundrauschen dabei zu haben. Dezidiert leichtere Kost als sein heftiger Vorgängerfilm Phantom Thread, dabei aber alles andere als leichtgewichtig, hatte Licorice Pizza lieber zwei junge Menschen im Visier, die ihr geschäftliches Glück – mit klassischen Seventies-Sachen wie Wasserbetten und Flippern – zwar um das Show-Business und seine Stars herum suchten, sonst aber eigentlich zuvorderst damit beschäftigt waren, sich und eventuell einander zu finden. Ungewöhnliche, unerwartete Seelenverwandte schienen sie zu sein, die über ihre Zukunft sehr unschlüssige Mittzwanzigerin Alana (Alana Haim of Haim-Band-Fame) und der schrankenlos selbstbewusste, mit aller Unbekümmertheit der Welt um ihr Herz werbende 15-jährige Teen Gary (Cooper Hoffman, unverkennbar Philip Seymour Hoffmans Sohn), die PTA miteinander eine Serie von schrägen Eskapaden und Begegnungen (Bradley Cooper!) erleben ließ. Ganz ohne Eile oder Erklärungen ging dieses durchaus auch mal schrullige Werben und Werden von statten, es fand, unterstützt vom obligatorisch bombigen Soundtrack, seine liebenswerte, unbeschwerte Magie noch im vermeintlich unbedeutendsten Moment – und schenkte einem letztlich einige der dicksten Grinser des Kinojahres. Und das Gefühl, so wie die beiden Teilzeit-Turteltauben etwas Unbezahlbares fürs weitere Leben mitgenommen zu haben.

Ebenfalls Erfreuliches im Schnelldurchlauf

+++ Mit dem, ha!, unwahrscheinlich geil gegen den Strich gebürsteten Rachedrama Riders of Justice ging die 2020 mit Der Rausch gestartete Mikkelaissance in eine aufsehenerregende nächste Runde +++ Das Häfndrama Große Freiheit berichtete mit Wut im Bauch und Authentizität im Blick von schwulenfeindlicher Gesetzgebung und war der beste österreichische Film des Jahres +++ Das feinfühlige Familiendrama Minari berichtete aus migrantischer Perspektive vom Kollidieren des ehrgeizigen Verfolgens des American Dreams mit der Realität und Dynamik des Privatlebens +++ Joel Coen remixte auf seinem ersten Soloalbum The Tragedy of Macbeth das bekannteste Stück Shakespeares als bildmächtige Horror-Show +++ Das japanische Kino bewies mit Beyond The Infinite Two Minutes und Drive My Car, dass es zwischen einer und drei Stunden Spielzeit in gänzlich unterschiedlichen Genres Köpfe zum Rauchen und Reflektieren bringen konnte +++ James Gunns ultrasubversive DC-Fortsetzung/Neuauflage The Suicide Squad injizierte dem allzu gefällig gewordenen Superheldenkino einen dringend benötigten Boost Anarchie +++ Das beklemmende Besessenheitsdrama The Novice war für Leistungsrudern das, was Black Swan für Leistungsballett und Whiplash für Leistungstrommeln waren +++ Der Titanen-Clash Godzilla vs. Kong lieferte im Frühsommer jene Sorte episches Leinwandbeben, die man zuvor über ein Jahr lang vermisst hatte +++ Die Tragikomödie Swan Song (nicht mit dem Film gleichen Namens mit dem doppelten Mahershala Ali verwechseln) bot dem großen Udo Kier endlich einmal die Hauptrollenbühne – mit betont bittersüßem Ergebnis +++ Céline Sciamma ließ ihrem Porträt einer jungen Frau in Flammen mit der magisch-realistischen Kids-Fantasy Petite Maman einen nur vermeintlich kleineren, genauso erhabenen Film folgen +++ Halb Stand-up, halb Musical passt Bo Burnham: Inside zwar nicht ganz in diese Sammlung – brachte aber unser aller Lockdown Life mit derart viel Scharfsinn und Song-Brillanz auf den Punkt, dass es vermessen wäre, darauf zu verzichten. Cause: That is how the world works +++