Eskalierender Wahnwitz in der Wüste und im Wald: In dieser Ausgabe der Podcast-Kolumne für The Gap begeben wir uns anhand zweier Filme an die Grenzen des menschlich Erträglichen. Aua aua.

Algorithmus? Ach was! Es ist doch immer noch die gute alte analoge Assoziation, die einem die bezauberndsten Querverbindungen in den Alltag wirbelt. So auch kürzlich, als mir unvermittelt eine Eingebung in die Großhirnrinde schoss und meine Aufmerksamkeit zusätzlich in Beschlag nahm – mitten hinein ins eh schon rege Wechselspiel aus rezenten Sinneseindrücken und innerer Reflexion. Der Auslöser? Ein Lied – genauer: Aua aua von Future Franz, einem eher in der Nische agierenden Drucker verschmitzter Alltagsgschichtln deutscher Zunge. Dieser hinterfotzige Ohrwurm machte sich just in jenem Moment bemerkbar, als sich auf der Leinwand vor mir eine der markerschütterndsten Szenen der jüngeren Kinogeschichte abzuzeichnen begann.

Holla, was war das denn bitte? Ein perfider Zufall? Oder doch ein unbewusster Schutzmechanismus? Schwer zu beurteilen. Leichter fällt dafür die grundlegende Erkenntnis, dass dieser Song mit seinem schmerzerfüllten Titel und einem Text, in dem rätselhaft von Messern in Küchen fabuliert wird, erschreckend gut zu jenem konkreten Ereignis des Grauens in Bring Her Back (ab 15. August im Kino), dem neuen Werk des australischen Brüderpaars Danny und Michael Philippou, passt. So gut sogar, dass man meinen könnte, „Aua aua“ wäre auch als Tagline auf dem Poster eine ausgezeichnete Wahl gewesen.

Herzlicher Horror

Nach ihrem präzise beunruhigenden Einstand Talk to Me (2023) erzählen die Zwillinge in ihrer jüngsten Arbeit mit dreiteiligem Imperativ von den Stiefgeschwistern Andy (Billy Barratt) und Piper (Sora Wong), die eines schicksalhaften Tages die Leiche des Vaters im Badezimmer vorfinden. Bis Andy aber volljährig wird und das Sorgerecht für seine sehbehinderte Schwester übernehmen darf, landen die Neowaisen erst einmal in der Obhut der ehemaligen Sozialarbeiterin Laura (Sally Hawkins), deren schrullige Herzlichkeit allerdings rasch Risse bekommt. Was hat es mit dem ausgestopften Welpen in der Küche auf sich? Was mit dem leeren Pool und dem stummen Kind darin? Was mit den gruselig-grieseligen VHS-Aufnahmen seltsamer Rituale und dem Kreidekreis ums Grundstück? Und was ist mit der Pflegemutter selbst, die mit erschreckender Vehemenz daran zu arbeiten scheint, die Verbindung zwischen den Kindern zu torpedieren?

Die Wahl der Qual

Die Philippous gehen mit Bedacht daran, die Verletzungen ihrer Figuren zu enthüllen, unterfüttern ihren psychologischen Horror dabei mit viszeralen Schockmomenten – wie der erwähnten Splatterszene –, die selbst abgebrühte Schauder-Afficionados durchrütteln dürften. Und doch ist es primär die stetig beklemmender werdende Atmosphäre dieser Wahl- und Qualverwandtschaft, dieses nicht spezifizierbare Unbehagen, das einem so richtig fies und tiefgreifend zusetzt. Bring Her Back stellt nicht einfach die handelsübliche Frage nach Gut oder Böse, sondern lotet lieber aus, wie eine alles einnehmende Trauer Menschen von Grund auf verändern kann – bis sie Handlungen tätigen, die sonst kaum vorstellbar scheinen. Die Balance aus Körper- und Kopfhorror, aus okkultem Thrill und nuancierter Charakterstudie, sie ist hier herzschlagerhöhend herausragend gelungen.

„Bring sie zurück“ – das könnte genauso gut das Mantra eines weiteren Ausnahmefilms dieses Sommers sein, der zufällig sogar am selben Tag anläuft. Auch in »Sirât«, dem in Cannes frenetisch empfangenen vierten Spielfilm des galicischen Regisseurs Óliver Laxe, steht der Verlust eines geliebten Menschen im Zentrum. Hier ist es ein Vater, der nach seiner Tochter sucht, die sich vor Monaten zu illegalen Raves in der marokkanischen Sahara verabschiedet hat und nie zurückgekehrt ist. Eben dorthin, wo Subwoofer und Substanzen die Regie für einen euphorischen, egalitären Zirkus von Outcasts führen, verschlägt es nun Luis (Sergi López) sowie seinen ihn tapfer sekundierenden Spross. Von der Vermissten fehlt zunächst zwar jede Spur, doch eine Clique von Feiernden setzt dem Gespann die Idee in den Kopf, dass man es ja auf dem nächsten Event weiterversuchen könnte – zu dem sich diese Gemeinschaft der gemeinsam Verlorenen denn auch quer durch die Einöde aufmacht.

Wie in Bring Her Back entsteht auch in Sirât aus der Not heraus eine zusammengewürfelte Zufallsersatzfamilie, die lediglich einem prekären Zusammenhalt unterliegt. Die Parallelen reichen weiter, denn auch diese Geschichte nimmt zunehmend wahrlich wilde, wunderliche und wahnwitzige Ausformungen an. Aus der Dystopie eines Rave-Roadmovies an der Schnittstelle von Lohn der Angst und dem Mad Max-Franchise erwächst letztendlich eine entschieden albtraumhafte Parabel. Der sich auf die schmale Brücke zwischen Himmel und Hölle in der islamischen Mythologie beziehende Filmtitel darf dabei durchaus als Programm verstanden werden.

Hat diese weißglühende Wüstenodyssee dann erst einmal den Punkt ohne Wiederkehr erreicht, führt die Reise geradewegs durch ein Tal sandstaubiger Tränen – mitten hinein in eine hypnotische Meditation über Tod, Schmerz und die Grenzen des noch Erträglichen. Auf unvergleichliche und nahezu unerträgliche Weise zieht einen diese vieldeutige, nervenzerfetzende Erkundung einer bis zum Äußersten getesteten menschlichen Psyche emotional durch den wringer. Und doch möchte man keine Sekunde dieses Seelenschleudertraumas missen. Because it hurts so good. Aua aua.