Wo wir Wurzeln schlagen: Regie-Shooting-Star Kogonada und Oscar-Preisträgerin Youn Yuh-jung verdichten die jahrzehntelange Bestseller-Heimatsuche einer koreanischen Frau für Apple TV+ zu Patschenkino von größter Güte.

Darum geht’s: Allem Anfang wohnt ein Zauber inne. Wissen wir, haben wir erlebt. In den außergewöhnlichen Belangen des Lebens sowieso, aber auch in den gewöhnlichen. Und selbstverständlich auch auf den Schirmen, die uns die Welt bedeuten. In Form liebevoller, aufwendig gestalteter Serien-Vorspänne und sich aufmerksam ans augenblicklich anfangende Geschehen heranschleichender Opening Credits, die in vertrauter anregender Weise reiche Vorfreude auf das Kommende triggern, one episode at a time. Die in der letzten Dekade zur Formvollendung gebrachte Kunst der Show-Intros hat jedoch trotz des unverzagt anhaltenden Serienbooms der Gegenwart schon bessere Zeiten gesehen. Oder vielleicht grad deshalb? Weil Zeit Geld ist und die Aufmerksamkeit des Auditoriums sich jeden Augenblick verabschieden kann, haben Netflix und Co. irgendwann die Unart des „Skip Intro“-Buttons eingeführt – und dieser aufblühenden Kunstform sichtbaren Schaden zugefügt. Und so fielen zuletzt immer mehr Creators in das überholt geglaubte Muster zurück, die Vorspänne ihrer Serien wieder betont kurz, reiz- und schmucklos zu gestalten.

Eine entschlossene Gegenbewegung zu diesem tristen Trend ließ zum Glück nicht lang auf sich warten – in Form von Serien-Intros, die nicht nur betont kunstvoll gestaltet sind, sondern auch so elektrisierend, dass man nicht mal auf die Idee kommen kann, dass es da überhaupt ein Skip-Knopferl gibt. Nur Wochen nachdem der Vorreiter auf diesem Gebiet, die tanzbärige Einleitung von James Gunns unerwartet erfreulichem Suicide Squad-Serien-Spin-off Peacemaker, weltweit für Furore sorgten, setzen die Credits der brandneuen Apple-TV-Produktion Pachinko der hot new Spezies des turbodynamischen Choreo-Prologs bereits die Krone auf. Vor dem Hintergrund des bestens gehüteten Oldie-Ohrwurms „Let’s Live For Today” der Band The Grass Roots fegen, hopsen, hibbeln sämtliche Serien-Hauptfiguren in ihren jeweiligen periodenkonformen Aufmachungen durch eine japanische Spielhalle der 80er, die von hinten bis vorn mit jenen Geldspielautomaten vollgeräumt sind, die der Show ihren Namen geben. Gegenwart und Vergangenheit tänzeln solcherart miteinander, aber auch aneinander vorbei durch die Gänge, reichen sich die Hände, wirken aufeinander ein, befruchten und befeuern sich. Es ist kaum auszuhalten, wie gut, wie mitreißend, wie elektrisierend, wie auf den Punkt das alles ist. Ein Intro für die Geschichtsbücher der modernen Serienkunst. Und dessen ungeachtet erst der Ausgangspunkt einer Reise, die nicht weniger einzigartig, berauschend und beglückend ist.

Heute, gestern, vorgestern fließen denn erfreulicherweise auch im Plot der Serie ineinander – auf formvollendete wie funkensprühende Weise bringt Pachinko aber nicht nur mehrere Zeitebenen, sondern auch gleich mehrere Kontinente und Sprachen (Koreanisch, Japanisch, Englisch) unter einen Hut: Erzählkunst extraordinaire. Ihren Ursprung nimmt die auf einem Bestseller der koreanisch-amerikanischen Autorin Min Jin Lee beruhende Handlung in der Zeit der Besetzung Koreas durch Japan zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Im damals unscheinbaren Fischerdörfchen Busan wächst Sunja als unverhofftes spätes Wunschkind heran – ihrer früh verwitweten Mutter bei den alltäglichen Erledigungen, die mit dem Betrieb der Familienpension zusammenhängen, zur Hand gehend. Freilich nur so lang, bis sie sich als junge Frau mit einschneidenden Folgen Hals über Kopf in einen windigen Fischhändler verlieben wird. Am anderen Ende des Plots finden wir uns im japanischen Osaka der späten Achtziger Jahre wieder, in das Sunjas Enkel Solomon eben aus den USA zurückgekehrt ist: Der ehrgeizige, schon als Teenager emigrierte Wall-Street-Jungbanker soll einen für seine Firma ultra-lukrativen Immobiliendeal über die Bühne bringen. Für den muss er eine alte Frau zum Verkauf ihres Hauses überreden soll. Diese ist wie seine Großmutter, der Solomon im Zuge seines Aufenthalts nach Zeiten der Entfremdung wieder näherkommen wird, jedoch ausgerechnet eine vor Ewigkeiten von den japanischen Besatzern aus ihrer Heimat vertriebene Koreanerin …

So weit, so ungefähr aber auch schon bekannt, mag sich da mancher denken, während Erinnerungen an die zahlreichen, Jahrzehnte und Generationen umspannenden Familiensagen der (mitunter nicht mehr ganz aktuellen) Seriengeschichte – sag bloß nicht „Soap“ zu ihnen – hochkommen. Und könnte falscher nicht liegen. Denn die Showrunnerin Soo Hugh und die beiden Regisseure Kogonada und Justin Chon hatten in ihrer Adaption wahrlich vieles im Sinn – nichts davon ließ sich lobenswerterweise nach dem Regelwerk des Reißbretts abarbeiten. Besonders Kogonadas brillante Filmarbeiten dürfen hier ohne Weiteres als bewusst hoher Maßstab der Einordnung dienen: So wie in seinem aktuelle Geschenk After Yang finden sich das große Ganze, die universelle Einsicht, das Politische und das Epische hier im Mikrokosmos des Privaten gespiegelt und gedoppelt, in den kleinen, den persönlichen Geschichten – empathisch, atmosphärisch, kraftvoll. Wie in einem dieser blinkenden Pachinko-Automaten verfolgen die Bälle der Erzählung dabei über die Bahnen von Zeitsprüngen und Flashbacks ihre Ziele, die zunächst nicht immer ausrechenbar erscheinen. Doch auch wenn man nicht immer sofort weiß, was das alles soll: Sobald man ihre Abzweigungen und Absichten erst einmal, ganz für sich selbst, durchschaut hat, ist man umso hingerissener. Es sind im besten und schönsten Sinne des Wortes gefühlte Wahrheiten der kostbarsten Natur, die uns Pachinko mit und in seinem berückenden Geflecht aus Erinnerungen und Erkenntnissen seiner Figuren hinterlässt.

Wobei … Figuren. Letztlich ist es zumindest in der ersten und hoffentlich nicht einzigen Staffel DIESE eine Figur, die hier unbestritten im Mittelpunkt des Geschehens steht. Und mehr braucht es gemeinhin auch gar nicht, als die von drei Darstellerinnen bestechend verkörperte Sunja, um Absicht und Wesen der jeweils aktuellsten Entwicklungen greifen zu können – zwischen der tollen Kinderdarstellerin Jeon Yu-na und der erwiesen exzellenten Youn Yuh-jung (letztes Jahr für Minari Oscar-prämiert) ist es insbesondere die Newcomerin (!) Kim Min-ha, die dieser Erzählung als jungerwachsene Sunja Gesicht, Herz und Seele verleiht. Unermesslich viel davon. Wie von der unnachahmlichen Intro-Sequenz kann man den Blick einfach nicht mehr von ihr abwenden, sobald sie mal wieder im Bild ist – sie erdet diese Familiensaga, der so viel Schmerz, Verlust und Trauma, aber auch so viel Resilienz, Liebe und Lebenslust eingeschrieben sind, genauso wie sie sie in lichte Höhen wuchtet, die man in der TV-Gegenwart selten findet. Home is where the heart is: Die ewige Binse, sie bewahrheitet sich hier mit dem allergrößten Nachhall.

Besondere Beachtung: Wurden die exzeptionell sensationellen Opening Credits hier schon erwähnt? Ja? Gut so. Kann man nicht oft genug machen. Hier noch zum Immer-wieder-Schauen:

Koordinaten: Minari; My Brilliant Friend; Blue Bayou

Anschauen oder auslassen? Anschauen. Vom Suchen, Finden und Verlieren von Heimat und Identität erzählt diese Serie, in der man einfach versinken möchte: Ein Meisterwerk der modernen Fernsehkunst, das sich alle Zeit sowie ästhetischen und inszenatorischen Freiheiten nimmt für ein gewaltiges, generationenumspannendes Gemälde, das in seinen intimsten Momenten fesselt und fasziniert, während es zugleich universell gültige Wahrhaftigkeit und Schönheit verströmt.

[Geschaut: gesamte Staffel]