Das kleine Bin-Ich-ich? Die Serien-Adaption eines obskuren Comics aus der dritten Reihe ist zerrissen wie ihr Antiheld: Zwischen faszinierenden Ideen, erheblichem Schauspielglanz und der Mutlosigkeit der Marvel-Routine.

Darum geht’s: Ja, hört das denn nie auf? Denn noch jedes Mal, wenn man sich gedacht hat: „Nun lass ich es ein für alle Mal hinter mir, dieses aufgeblasene und immer weiter expandierende Universum mit seinen niemals endenden Storylines in Form von Film-Fortsetzungen und Serien-Auskopplungen“, sind die Menschen bei Marvel eben verlässlich immer noch mit einer neuen, unwiderstehlich tönenden Marketing-Masche dahergekommen. Und schon saß – und sitzt! – man wieder vor dem Schirm oder der Leinwand, während man gewohnheitsmäßig zu verdrängen versucht, dass die Phase 4 des MCU weder im Kino (je weniger Worte man über das schnarchige Eternals verliert, desto besser) noch deren Ableger im TV (stellvertretend sei das echt egale Hawkeye angeführt) bisher das Gelbe vom Ei waren.

Womit wir auch schon bei Moon Knight wären, einem weiteren Paradebeispiel der Gattung „doch zu verlockende Vorzeichen für einen Boykott“. Verspricht dieses je nach Zählweise fünfte oder sechste MCU-Serien-Spinoff für Disney+ doch zum einen erstmals eine Story, die nicht auf einer bereits in den Filmen eingeführten Figur aufbaut, deren weitere Entwicklung dann über sechs Extra-Stunden noch mal lang und breit aufgerollt und üppig, aber nicht immer zwingend ausgeschmückt wird. Und zum anderen massives Talent vor und hinter der Kamera, das bestechende Einschaltimpulse liefert. Im Regiestuhl saßen Mohamed Diab (dessen Klaustrophobie-Thriller Clash verlässlich Angstschweiß auf die Stirn zaubert) sowie das Duo Justin Benson und Aaron Moorhead (geschätzt für gefinkelte Genre-Twister wie Spring und The Endless), die Bösewichtrolle wurde mit der für Comic-Unterhaltung bislang nicht grad empfänglichen Indie-Ikone Ethan Hawke besetzt – und die Hauptfigur mit einem der ungekrönt größten Mimen der Gegenwart: Oscar Isaac (dessen bisher einzigen Marvel-Auftritt im wirklich üblen X-Men: Apocalypse hier gern unter den Tisch gekehrt werden soll – ganz im Gegensatz zu unserer eigenen, ihm gewidmeten Podcast-Episode).

Und dann ist da ja noch die Story selbst, die erst einmal so erfrischend anders und ambitionierter klingt als das, was man aus dem Marvel-Kosmos, an den das Geschehen zumindest in den ersten vier zur Schau-Verfügung gestellten Folgen erfreulicherweise null anknüpft, sonst so kennt. Oscar Isaac verkörpert, mit extradickem Brit-Akzent, den Londoner Museumsshop-Mitarbeiter Steven Grant, dessen an sich aufregungsarme Existenz zuverlässig aus den Angeln gehoben wird. Findet er sich doch allnächtlich schlafwandelnd inmitten wüstester, nicht nachvollziehbarer Abenteuer wieder, die nicht selten mit schlimmen Schrammen und Seelenwunden einhergehen. Abhilfe soll ein Anketten ans Bettgestell bieten – was mehr schlecht als recht funkt. Was ist da bloß los, fragt man sich. Und weiß es nach den Trailer-Vorschauen ohnehin schon: Grants Grant rührt mitnichten von konventionellen Schlafproblemen her, sondern hat mit einer – checks notes – dissoziativen Identitätsstörung zu tun. Jene Persönlichkeitsspaltung fördert sodenn verlässlich sein anderes Ich zu Tage: einen mit allen Action-Wassern gewaschenen Ami-Söldner namens Marc Spector, der Auslöser (sowie zumeist auch Auflöser) der unbewussten nächtlichen Ausflüge ist. Als menschlicher Avatar des ägyptischen Mondgottes Khonshu (im Original unnachahmlich intoniert von F. Murray Abraham) erfüllt Marc in einer superpower-spendenden Montur als Moon Knight die Aufträge der manipulativen Gottheit mit Vogelschädel. Und mit ihm, ob der das nun will oder nicht, eben auch der arme Steven …

Man kann sich schon gut vorstellen, was Könner wie Isaac und Hawke an dieser Story um einen doch eher obskuren Helden aus der dritten Reihe gereizt hat. Ist Moon Knight doch der Stoff, aus dem Schauspielerträume sind: eine prinzipiell gegen Genre-Usancen gebürstete, düstere, ziemlich brutale Angelegenheit – mit einem unzuverlässigen Erzähler im Zentrum, der im Clinch mit sich selbst sowie seinen Eindrücken und Erinnerungen liegt, dessen Wahrnehmung der Welt man also nie so recht vertrauen kann. Und zumindest in der wunderbaren Pilotfolge inszeniert Mohamed Diab die von ramponierten Realitäten, folgeschweren fortgesetzten Blackouts und allgemeiner Verunsicherung geprägte Tour de Force mit genau der richtigen Mischung aus Action-Rambazamba, Mindfuck-Montagen und zahlreichen WTF-Momenten, dass man sich Orientierung und Übersicht selbst immer wieder von Neuem erkämofen muss – und dabei zunächst genauso auf verlorenem Posten steht wie der überforderte Antiheld.

Ein richtig starker erster Akt, ohne Wenn und Aber. Nun ist Moon Knight allerdings kein Film, in dem nun im weiteren Verlauf die Rädchen der Marvel-Maschinerie routinemäßig ineinandergreifen könnten – im Affenzahn angetrieben von Handlung, Handlung und noch mehr Handlung. Denn „leider“ ist Moon Knight eine Serie. Und in der Gattung läuft das erfolgreichste Popkultur-Werkl der letzten Dekade erfahrungsgemäß bis heute alles andere als geschmiert. Nämlich genau aus eben erwähntem Grund. Denn statt nach dem eindrucksvollen Einstieg einfach tiefer in das wundersame Innenleben des lädierten Protagonisten einzutauchen, den weiteren Verlauf der Staffel also auf der Figur und ihrer persönlichen Reise aufzubauen – also einfach das Rezept der vielen großen Serientriumphe der jüngeren Vergangenheit aufzugreifen – wird bald klar, dass man es hier einfach erneut mit einem auf sechs Stunden gestreckten Film zu tun hat, dem der Plot immer wichtiger sein wird seine Charaktere. Und ehe man es sich versieht, ist man schon wieder mittendrin im altbekannten Gestrüpp aus ellenlangen Erklärungen und uncharmanten Info-Dumps zum großen Mysterientheater, das dem weit interessanteren Wesenskern zusehends die Luft zum Atmen nimmt.

Erzählen statt Erfahren also, once again. Was immer noch weniger ein Problem wäre, wenn man die Geschichte nicht obendrein so oder so ähnlich schon aus unzähligen Ausflügen in dieses Universum kennen würde – lediglich die Ausschmückung der Handlungs-Formel mit Mumienschanz der Marke Indiana Jones und, ja, Die Mumie geht dahingehend als (eher zweifelhafte) Neuerung durch. Während man also unweigerlich immer tiefer in den Welten von ägyptischen Göttern, ihrer Geheimnisse, Insignien und Rivalitäten versinkt, kommt man indes nicht umhin, jener Serie nachzutrauern, die Moon Knight eben auch hätte sein können: Eine die Ausnahmezustände und Abgründe psychischer Natur sowie ambivalente moralische Bredouillen nicht scheuendes Psychodrama im Superheldengewand, ein Memento mit Marvel-Spin gleichsam. Und während man noch trauert, fällt einem wieder ein, dass es genau das ohenhin schon gab – vor gar nicht allzu langer Zeit, als uns Noah Hawley (Fargo) mit Legion eine der formal dringlichsten wie inhaltlich ambitioniertesten comic-basierten Serien geschenkt hat. Dass ebendiese auch bei Moon Knight ein gewisser Maßstab sein könnte, lässt indessen das Ende der vierten Episode vermuten, die mit einem Twist aufwartet, der eine gewisse Ideen-Verwandtschaft an den Tag legt. Ob diese mutmaßliche Wendung allerdings allein Anlass für Hoffnung auf ein furioses Finale in den Folgen fünf und sechs gibt, das die selbstgeschaffenen Konventionen doch noch im Rückspiegel zurücklässt und den Wahnsinn im wahrsten Sinne von der Leine lässt? Man würde es sich sehr wünschen, aber man kennt leider auch seine Marvel-Pappenheimer …

Besondere Beachtung: Bei allem Ärger über die verschenkten Möglichkeiten: Oscar Isaac in einer anspruchsvollen Quasi-Doppelrolle und Ethan Hawke als seine Nemesis sind genau jener Boost an Extra-Schauspielqualität, der jeden Serienstoff zwangsläufig auf ein höheres Level hebt. Als weiterführende Schau-TV-Belege seien hierfür auch noch Show Me A Hero (Isaac) und The Good Lord Bird (Hawke) ins Treffen geführt.

Koordinaten: Legion; Loki; Memento; Fight Club; Die Mumie

Anschauen oder auslassen? Anschauen. Zumindest mal den punktgenauen Piloten, der Versprechen gibt, die leider in weiterer Folge (noch) nicht eingelöst werden. Denn selbst wenn entsprechende Fan-Kreise Moon Knight mindestens als die Neuerfindung des Marvel-Rades preisen werden, rollt hier letztlich vieles nur allzu dankbar nach Vorschrift und Formel dahin. Das Potential, das Stoff, Subtext und Schauspielgarde prinzipiell hergeben würden, ist zumindest nach zwei Dritteln der Staffel jedenfalls bie weitem noch nicht ausgeschöpft, der Mut zum Risiko blieb bislang wiederholt bloß ein behaupteter. Man würde sich von einem tatsächlich ambitionierten, kettensprengenden Zieleinlauf freilich nur allzu gern noch eines Besseren belehren lassen.

[Geschaut: 4 von 6 Episoden]