Nicht bloß Nacherzählung: Die Fiction-Serie zu einem der weirdesten US-Justizkrimis stellt Fragen, die über den Todesfall im Zentrum der Story hinausgehen – und unterzieht die Dokuserien-Vorlage einer kritischen Betrachtung.

Darum geht’s: Verbrechen zahlt sich aus. Und man muss sich dabei noch nicht einmal selbst die Finger schmutzig machen. Der Trick besteht darin, es sich in einem der besonders ausdauernd boomenden Segmente im Showbiz eingerichtet zu haben: Dem lukrativen Geschäft mit aufsehenerregenden wahren Verbrechen, die in der Form von Podcasts, Dokus und Serien zu Unterhaltungsangeboten verdichtet werden – in der sehr berechtigten Hoffnung, dass diese von der nach immer neuen, möglichst immer noch krasseren „echten“ Stoffen lechzenden True-Crime-Aficionados willig aufgesogen werden. Mitunter ja sogar mehrfach und in verschiedenen Formaten – wenn aus dem Podcast eine TV-Dokuserie wird oder die TV-Dokuserie zu einem Fiction-Format adaptiert wird. Besonders der Streaming-Anbieter mit dem roten N im Logo hat sich in den letzten Jahren regelrecht einen Sport daraus gemacht, solch spektakuläre Stoffe zu erfolgreichen Event-TV-Produktionen aufzublasen – mit der in der ersten Pandemie-Phase zum bestmöglichen Zeit gelaunchten Tiger King-Chronik als einstweiligem Höhepunkt.

Zu den Dauerbrennern dieses wohl lange noch kein Ende nehmenden Booms zählt zweifelsohne The Staircase – und das ist durchaus wortwörtlich zu verstehen: In ihrer ersten Form flimmerte die Dokuserie des grad frisch oscarprämierten Regisseurs Jean-Xavier de Lestrade nämlich bereits 2004 über die (zunächst nur französischen) TV-Schirme. Weil der thematisierte Fall aber nicht nur außerordentlich außergewöhnlich war, sondern nach seinem ursprünglichen Abschluss noch weitere weirde Wendungen nahm, folgten zwei zusätzliche Serien-Tranchen mit weiteren Episoden, die die neuen Entwicklungen aufrollten – die letzte davon 2018, eben auf Netflix, wo die Show, die schon eine beachtliche Karriere als Slow-Burner-Hit hinter sich hatte, endgültig und spät komplett durch die Decke ging. Damit hätte das Thema dann eigentlich auch final abgehakt sein hätte können. Aber da hat man die Rechnung eben ohne den unstillbaren Content-Hunger der zahllosen Streaming-Anbieter gemacht – und so haben wir nun den Salat: in Form dieser Produktion von HBO Max, die die dekadenumspannenden Geschehnisse mit sehr viel Schauspielprominenz besetzt wiedergibt.

Aber was hat sich dereinst überhaupt zugetragen, werden nun all jene wissen wollen, die um die Dokuserie bislang einen Bogen gemacht haben? Im Zentrum des Interesses stand damals die gleiche Frage wie heute: Was geschah mit Kathleen Peterson? Kam die Karrierefrau am Abend des 9. Dezember 2001 tatsächlich durch einen Treppensturz ums Leben? Oder wurde sie von ihrem Ehemann, dem Autoren Michael Peterson, kaltblütig ermordet? (Die dritte Theorie, on a side note: der Tod war die Folge eines Angriffs eines, yup, Streifenkauzes. Doch so abstrus selbige zunächst klingen mag – sie hat tatsächlich einige schwer widerlegbare Argumente, wie man hier nachlesen kann.) Die zahlreichen Widersprüche, die der Fall im Allgemeinen und der Verdächtige im Speziellen von den ersten zwei (!) Notrufen an aufwarfen, machten den blutigen Treppen-Tatort jedenfalls instantly zum dankbaren (und dabei zugleich langlebigen) Ziel des Interesses von Medien und Öffentlichkeit. Und genau diese Sensationsgeilheit wurde von Serienschöpfer Antonio Campos (The Sinner) nun in seiner verdichteten Rekonstruktion der Vorgänge auch schonungslos miteingepreist. Während Campos und Co-Regisseurin Leigh Janiak (Fear Street) die tragische Geschichte von allen möglichen Seiten aufrollen und die Timeline unentwegt zwischen diversen Deutungen des verhängnisvollen Abends, dem nachfolgenden Prozess und dem bis heute nicht abgeklungenen Nachbeben auf und abfahren, werfen sie nämlich auch einen ungeschönten Blick auf die Entstehungsgeschichte der damaligen Dokuserie.

Anders als beispielsweise Joe vs. Carole, das neulich einfach die bereits oben angeführte Tiger King-Story nacherzählen wollte, leider mit wenig Einfallsreichtum und Erkenntnisgewinn, hat die Drama-Serie The Staircase nicht allein eine (übrigens fesselnde) Neuausleuchtung der Ereignisse per se im Sinn, sie widmet sich mit demselben Feuereifer auch der allseits bekannten bisherigen Aufbereitung. Indem sie die Figuren, die einst hinter der Dokuserie standen, nun zu Charakteren der eigenen Sendung werden lässt und ihre Entscheidungen, die nicht immer koscheren Motivationen folgten, ins Scheinwerferlicht rückt, hält sie gleichsam einem gesamten Genre den Spiegel vor. Campos und Co. stellen hierbei wichtige Fragen, die weit über die eigentliche Erzählung hinausreichen, Fragen zu journalistischer Integrität, zu bewussten und unbewussten Schwerpunktsetzungen, zu eventuell persönlich motivierten Schlagseiten. In welchem Ausmaß darf das „true“ im True-Crime-Segment für bare Münze genommen werden? Wo verläuft die Grenze zwischen Objektivität und gerechtfertigter Auslassung – und wer zieht sie? Wieviel Script verträgt die Wirklichkeit? Gerade in jenen Momenten, in denen sie zwischen zahllosen Twists und Teppich-unter-den-Füßen-wegzieh-Momenten stellvertretend unbequemer Meta-Kommentar zu einem globalen TV-Trend ist, findet diese ambitionierte, groß denkende Show am verlässlichsten zu sich und zu bestechenden Momenten. Wohl wissend, dass sie selbst wiederum nur Zwischenbilanz sein kann – und das letzte Wort in dieser irrwitzigen Angelegenheit noch aussteht und auch der letzte Meter Film zum Thema noch lange nicht gedreht sein wird.

Besondere Beachtung: Verdient selbstredend der außerordentliche Cast, der sich durch die Bank schon mal auf (zumindest Nominierungen für) die Emmys freuen darf: Colin Firth und Toni Collette in den Hauptrollen, der verlässlich tolle Michael Stuhlbarg als Prozess-Anwalt, unter anderem Sophie Turner und Dane DeHaan als erwachsene Kinder in der Petersonschen Patchworkfamilie sowie Juliette Binoche in einer Rolle, die man aus Spoiler-Gründen noch nicht auflösen sollte: Sie alle schultern diesen bizarren Fall mit enormer schauspielerischer Exzellenz.

Koordinaten: The Staircase: Tod auf der Treppe; Tiger King; Joe vs. Carole; Making of a Murderer

Anschauen oder auslassen? Anschauen. Weil das zynische Kalkül der Marke „Wer einmal von dieser blutigen, mysteriösen True-Crime-Story hooked war, der schaut sie sich doch gern auch ein weiteres Mal an“ auf diese HBO-Produktion so was von gar nicht zutrifft. Der Fiction-Serie The Staircase ist eher ein maßgebliches Erweiterungs-Set zur Doku-Vorlage, das diese Beweis-Stück für Beweis-Stück und mit geballter Schauspielklasse eines kritischen Blicks unterzieht. Also: Einschalten wegen der ungeheuerlichen Anzahl von Story-Twists, dranbleiben wegen der umfassenden Dekonstruktion eines der populärsten TV-Genres der Gegenwart.

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