Wrongs of Faith and Devotion: In der ultradüsteren Adaption eines True-Crime-Romans soll Andrew Garfield als Mormonen-Cop einen „Mord im Auftrag Gottes“ klären. Eine Glaubenskernerschütterung von verstörender Wucht.

Darum geht’s: Multiversen sind aber so was von der hot shit right now, dem man nicht nur, aber speziell im Kino derzeit kaum auskommt – in Fertigungen der Blockbuster-Bude Marvel (wo zuletzt Doctor Strange in the Multiverse of Madness feststeckte und Sam Raimi in einem seiner schlechtesten Streifen) sowieso nicht, aber noch nicht mal im Arthouse-Kosmos, wo Qualitätsgarant-Imprint A24 gerade reichlich verschrobene Vermutungen darüber anstellt, wie es sein mag, wenn Everything Everywhere All At Once ist. Dabei wäre es mitunter gar nicht so verkehrt, das mit den unentdeckten Gefilden, die das eigene Denken auf die Probe stellen, auch mal eine Nummer kleiner zu spielen. Warum in die Ferne schweifen, wenn eine Mysterien und Überraschungen in großer Zahl bietende Welt doch liegt so nah – ja quasi nebenan? Wo das, was unter Wirklichkeit verstanden wird, ein klein wenig, mitunter aber auch maßgeblich anders arrangiert ist? Case in point: Wann hat man eigentlich die letzte aufschlussreiche Bewegtbildproduktion, die im Leben der Mormonen verankert war, gesehen? Nach durchaus längerem Kopfkratzen fällt einem dazu zumindest Big Love ein, eine Serie aus den früheren Hype-Tagen von HBO der mittleren Nuller Jahre, die zwar nicht bei uns, aber zumindest in der US-Heimat fünf Staffeln lang erfolgreich das Treiben einer im Geheimen polygam organisierten Großfamilie auffächerte. Einer der wesentlichen Kreativköpfe hinter jener Show: ein gewisser Dustin Lance Black.

Nach unter anderem einem Drehbuch-Oscar für Milk und dem von ihm geschriebenen Biopic J. Edgar kehrt Black nun gewissermaßen zu seinen Wurzeln zurück. Die neben seinen beruflichen ja tatsächlich auch seine familiären sind – wuchs er doch einst in einem Mormonenhaushalt auf. Entsprechend genau und klar wie auch klug und kritisch ist der Blick denn auch, den er in Under The Banner of Heaven auf die Community der Church of Jesus Christ of Latter-day Saints wirft – oder präziser: auf besonders fanatisierte Mitglieder derselben. Beruhend auf Jon Krakauers gleichnamigem Sachbuchschocker (auf Deutsch: Mord im Auftrag Gottes) nimmt uns diese Serie aus dem Hause FX/Hulu mit auf eine Reise ins Herz der Finsternis, die sich religiös verblendete Radikalisierung nennt. Unser Reiseführer (eine der wenigen fiktiven Figuren in dieser sonst leider allzu realen Horrorgeschichte) ist Kleinstadt-Gesetzeshüter Jeb Pyre (Andrew Garfield), der eines Abends zu einem Tatort des reinen Grauens bestellt wird: Die junge Mutter Brenda Lafferty (Daisy Edgar-Jones) und ihr 15-monatiges Baby sind auf solch bestialische Weise ermordet worden, dass nicht nur ihm, sondern gleich der gesamten Kollegenschaft das Blut in den Adern gefriert. Wer ist zu so etwas derart Abscheulichem fähig – und aus welchen Gründen, um Himmels Willen?

Bevor man überhaupt noch auf Fahndung gehen muss, fällt den Cops mit dem im derangiertem Zustand vor dem Haus auftauchenden Neo-Witwer der augenscheinlichste Tatverdächtige quasi gleich vor die Füße: Als einer von insgesamt sechs Söhnen der geachteten Mormonendynastie der Laffertys („die Kennedys von Utah“) ist Allen (Billy Howle) in der Gegend freilich ein geläufiger wie gefürchteter Name. Entsprechend heikel gestaltet sich das Verhör, das Pyre zusammen mit seinem Kollegen Bill Taba (Gil Birmingham) führt, zunächst auch. Im Zuge desselben verstrickt Allen sich nicht nur selbst in Ungereimtheiten, sondern den gottesfürchtigen Pyre auch in Debatten über divergierende Interpretationen ihres gemeinsamen Glaubens. Und genau diese Auffassungsunterschiede haben nicht zuletzt auch in den letzten Jahren schon im Lafferty-Clan für schwere Verwerfungen gesorgt. Im Zwist um die Nachfolge des Familienpatriarchen Ammon (Christopher Heyerdahl) haben sich besonders die beiden Söhne Ron (Sam Worthington) und Dan (Wyatt Russell) gegenseitig in immer noch fundamentalistischere, ins Sektiererische gehende Auslegungen der Religion und ihrer Praktiken hineingesteigert – wobei ihnen neben Staat und Behörden im Großen eben irgendwann auch mal die vergleichsweise fortschrittliche Brenda im Kleinen zusehends ein Dorn im stark verblendeten Auge gewesen sein dürfte.

Von Regie-Topcheckern wie David Mackenzie (Hell or High Water) mit auffälliger Geduld und klarem Verständnis von unheilverheißender Atmosphäre inszeniert lotst uns Under the Banner of Heaven hinein in ein wahnwitziges Rabbit Hole religiösen Wahns, aus dem es für viele der Beteiligten kein Entrinnen geben kann. Dass sich uns das Geschehen durch die Augen eines im TV-Krimi-Kontext auffallend normalen, ja gar gemäßigt gläubigen Ermittlers (Garfield war selten faszinierender) ohne Problembiografie offenbart, verleiht den fortgesetzt schockierenden Enthüllungen dabei ein Zusatzmaß an Wahrhaftigkeit und Verstörung. Erst durch „Brother“ Pyres belastendes persönliches Ringen mit den erdrückenden Abgründen, die in jenem Mikrokosmos, mit dem er sich prinzipiell auch selbst identifiziert, freigelegt werden, wird das grausame Aufeinanderprallen von Moral und Glaube, das der rote Faden dieser Serie ist, für uns Außenstehende erst spür- und fühlbar. Besonders aus dem Duett mit dem ewig unterschätzten Nebendarsteller Gil Birmingham als Native-American-Ermittlungspartner, der dem religiösen Treiben von Grund auf sehr, sehr argwöhnisch begegnet, ergeben sich die stärksten Momente dieser Serie. Just jenes Pingpong zwischen Sinnsuche und Skeptizismus ist auch der Grundpfeiler einer unwiderstehlichen Detektiv-Dynamik, die in bestimmten und den besten Momenten gar an eine der größten Serien des Genres erinnert. Ja, richtig gehört: Wenn Under the Banner of Heaven als vierte Staffel von True Detective konzipiert gewesen wäre, hätten wir das ohne Abstriche und mit reichlich Beifall gutgeheißen.

Besondere Beachtung: Bei aller richtiger Schwärmerei über die Herrn Garfield & Birmingham sollte man den Rest der Besetzung keinesfalls vergessen. Als fehlgeleiteter Patriarch in spe beispielsweise bemerkenswert beunruhigend: Kurts Sohn Wyatt Russell. Ohne Zweifel das Herz der Show ist freilich Daisy Edgar-Jones als ambitionierte junge Frau, die in einer einengenden Welt von nicht notwendigerweise Normal People – voll mit Regeln und Geboten, die durch die Kirchenbank von Männern festgelegt werden – leider von Anfang an keine echte Chance zur Selbstverwirklichung bekam. Eine wirklich tief unter die Haut gehende Performance.

Koordinaten: True Detective; Ozark; Big Love; The Path

Anschauen oder auslassen? Anschauen. Auf den ersten Blick unbestritten eine weitere Fiction-Serie, die auf einer gleichermaßen geheimnisvollen wie erschütternden True-Crime-Geschichte beruht, auf den zweiten aber so, so. viel mehr: eine schlaue, zwingende Reflexion über das Wesen des Glaubens und dessen unausbleibliche Tücken, die schneller als einem Gott lieb ist in extrem unerträgliche Abgründe führen können. Under the Banner of Heaven nimmt sich mit einem exzeptionellen Ermittlerduo von True Detectives im Zentrum alle Zeit der Serienwelt, um zwar keine einfachen Antworten, wohl aber lang und heftig nachglühende Eindrücke zu liefern.

[Geschaut: 6 von 7 Episoden]