Remarques Antikriegsklassiker kriegt fast ein Jahrhundert nach dem ersten Leinwandauftritt eine Neudeutung via Netflix: als besonnen bestürzende Vermessung einer Welt in Scherben, in der Heldenmut stracks in die Hölle führt.

Darum geht’s: „Aber weshalb sollte ich mir das anschauen wollen?“: Verlässlicher- wie verständlicherweise eine der ersten Fragen, wenn eine Filmempfehlung grad mal wieder in den Gefilden des (Anti-) Kriegsfilms zu landen kommt – was zugegebenermaßen auch nicht wirklich oft passiert, zuletzt war es 2019 anlässlich von Sam Mendes‘ späterem dreifachen Oscar-Triumph 1917 der Fall. Und man kann sie ja rundweg verstehen, die Zweifel gegenüber dem Genre, die Skepsis, die ihm entgegenschlägt, selbst bei Menschen, die eine gewisse Hartgesottenheit beim Medienkonsum für sich verbuchen können und etwa eine Staffel der nun wirklich nicht sonderlich inspirierten (Ryan Murphy halt) Dahmer-Miniserie auf einen Sitz wegschauen können. Aber ja: Krieg, zumal als Unterhaltungsprodukt, ist da noch einmal in einer ganz eigenen Trigger-Liga zuhause – und erst recht dann, wenn selbiger mit all seinen barbarischen Auswüchsen, nicht nur so nahe scheint, sondern in aller traurigen Realität tatsächlich so nahe ist wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Also: Warum dann noch (letztlich immer auch einer gewissen Zerstreuung zuarbeitenden) Fiction-Produktionen zum ewig akuten Thema, warum Im Westen nichts Neues?

Nun haben wir es hier, das lässt das am immer noch gültigen Status des geflügeltes Wortes, der mit dem Titel mitschwingt, zuvorderst mal mit nicht irgendeinem Kriegsfilmstoff zu tun, sondern mit einem der filmgeschichtsträchtigsten. Der reale Erste Weltkrieg war kaum ein Jahrzehnt vorüber als die Verfilmung von Erich Maria Remarques Wuchtbuch von Weltrang (bis heute der deutsche Top-Seller-Roman schlechthin) bei der überhaupt erst dritten Oscar-Verleihung 1930 in den Kategorien Bester Film und Beste Regie Goldknaben abräumte. Der Impact des eben überstandenen Grauens war daher ohnehin noch frisch und präsent – und dann zeigte Regisseur Lewis Milestone in seiner Meilensteinarbeit den Krieg obendrein auch noch so, wie man ihn bis zu diesem Zeitpunkt in noch keinem Film gesehen hatte: als das, was der Hölle auf Erden am nächsten kommt, in Form es ungefilterten, mit gerechtfertigten wie nicht geringen Dosen Pathos abgeschmeckten Abgesangs auf Heldenmut und Nationalismus. Ein Proto-Antikriegsfilm, wenn man so will, eine Warnung für nachfolgende Generationen. Weil solche Warnungen hingegen mit der Zeit verblassen – weil die Botschaft für jene Generationen irgendwann nicht mehr zeitgemäß genug verpackt erscheint – muss man sie immer wieder mit neuen Bildern belegen. Nach einer zweiten Verfilmung des Stoffs fürs 70er-Jahre-TV wagte sich mit Edward Berger (Patrick Melrose, Deutschland 83) nun erstmals ein deutscher Filmemacher mit deutscher Besetzung an das Material – freilich mit manch essentiellem Einschnitt in selbiges.

Der erste ist denn auch gleich von beispielhafter und stark wirksamer Natur. Berger stürzt uns in seiner Adaption, für die er auch das Drehbuch mitschrieb, zwar unvermittelt hinein ins Chaos der Schützengräben an der Westfront, an der es zwar im großen Ganzen nichts Neues, dafür Tag für neuen Tag sehr viel neues Blut und Leid gibt – allerdings anders man denkt. Der deutsche Soldat, an dessen Fersen sich die Kamera während eines weiteren alptraumhaften Angriffs nach eh schon viel zu vielen heftet, um ihm beim immer unerträglicheren Laufen und Laden, Brüllen und Schießen zu beobachten, ist mitnichten der Protagonist. Ja, der junge Mann wird nicht einmal die ersten zehn Minuten überleben. Seine Uniform hingegen schon: Sie wird ihm von nachrückenden Trupps vom toten Körper geschält, um hernach wieder in die hochgradig zynische Verwertungskette des Krieges eingespeist zu werden – kaum, dass die Blutflecken gesäubert und die Schusslöcher geflickt wurden landet das Stück Stoff schon in den Händen des nächsten naiv-begeis­terten Freiwilligen, der in absoluter Verkennung der Situation im Norddeutschland des Frühjahrs 1917 bereit ist, sich in sich selbst vorgespielter Heldenpose zum Kanonenfutter zu machen: unserem tatsächlichen Protagonisten Paul Bäumer (Felix Kammerer). Und so nimmt sie ihren verhängnisvollen Lauf, die persönliche Höllenfahrt eines Teenagers – vom Pausen- über den Kasernenhof volley in den Schützengraben, in dem bald ein Schulfreund nach dem anderen auf grausame Weise das Zeitliche segnen wird.

Zugegebenermaßen erweisen sich auch nicht alle von Berger eingebrachten Ideen als solche Glücksfälle: Parallel gesponnene Handlungsstränge, die sich mit einem von Devid Striesow allzu cartoonhaft gespielten extra-kriegslüsternen General sowie mit einem von Daniel Brühl verkörperten Reichsabgesandten auf Friedensvertragsmission beschäftigen, erweisen sich nicht nur als wenig überzeugend, sondern beinahe als kontraproduktiv. Denn statt die Schützengräben-Szenen in ihrer Wirkung zu verstärken, indem sie die Abgründe des Kriegs quasi auf höherer Ebene doppeln, erzeugen diese Extraszenen eine Art Distanzierungseffekt, der den Impact des restlichen Films mitunter sogar mindert. Allerdings auch nicht maßgeblich: Denn immer, wenn es abseits dieser aufgesetzten Appendizes wieder alles andere als ruhig an der Westfront zugeht, finden der Regisseur und sein Kameramann James Friend virtuos und verlässlich zurück zu ihrem so bestürzenden wie aber auch besonnenen Bildsturm, zu einer bezwingenden Dringlichkeit und Direktheit. Also: Ja, das muss man sich das klarerweise anschauen „wollen“. Wenn man sich aber dazu durchringt, gewinnt man bei aller Schwerverdaulichkeit jedoch auch in nicht geringem Maße kraftvolle Eindrücke und Erfahrungen. Auch und gerade in Zeiten wie diesen.

Besondere Beachtung: All eyes on: den jungen Österreicher Felix Kammerer, dem einen oder anderen ja vielleicht schon als Burgtheater-Ensemblemitglied bekannt: unfassbar eindrucksvolle erste (!) Filmrolle – und wegen Netflix-Distribution auch gleich global hinterlegte Visitenkarte. Nächster Auftritt folglich auch gleich international: in All The Light We Cannot See, einer neuen Serie von Steven Knight (Peaky Blinders) und Shawn Levy (Stranger Things).

Koordinaten: 1917; All Quiet on the Western Front (1930); Saving Private Ryan; Dunkirk

Anschauen oder auslassen? Anschauen. Natürlich nur gesetzt den Fall, dass man sich – siehe oben – so etwas auch grundsätzlich anschauen kann und will. Denn sie geht unstrittig ans Eingemachte, diese Neubearbeitung des Antikriegsfilmklassikers, so wie sie uns mit ähnlich unerbittlicher Unmittelbarkeit ins grauenhafte Geschehen wirft wie zuletzt 1917 oder Dunkirk. That said muss sich dieser offizielle deutsche Oscar-Beitrag hinter diesen modernen Vorzeigewerken des Antikriegsfilms nun wahrlich nicht verstecken.