Eine Geistergeschichte der etwas anderen Art, ein feministischer und sexpositiver Frankenstein-Remix sowie ein tatsächlich mitreißender Autorennfilm (als Autorenfilm): Das waren die Highlights der 61. Ausgabe der Viennale.

Poor Things

Es ist so unheimlich wie bemerkenswert, wie sich Yorgos Lanthimos mit jedem seiner Werke weiter selbst übertrifft und immer noch Größeres und Gewaltigeres schafft, ohne auch nur die geringsten Zugeständnisse zu machen. Von Dogtooth über The Lobster bis hin zu The Favourite wurde das Schaffen des griechischen Filmemachers immer gewagter und formvollendeter – um nun mit Poor Things seinen (vorläufigen) Höhepunkt zu erreichen. Wieder mit der brillanten Emma Stone – wohl das Traumduo aus Schauspielerin und Regisseur der Gegenwart – hat er mit dieser herrlich spinnerten Verschmelzung aus Pygmalion-Remix und perversem Märchen den bislang grandiosesten Film seiner Karriere geschaffen. Und dieses Jahres obendrein. Poor Things folgte der wundersamen Reise einer jungen Frau, die von einem verrückten Wissenschaftler durch die Implantation eines Babygehirns wieder zum Leben erweckt wurde. Der Film zeigte, wie sich Bellas anfangs kindliche Psyche allmählich in die einer Erwachsenen verwandelte, während sie gleichzeitig noch von Männern um sie herum bevormundet und kontrolliert wurde. Wie sie als „unvollkommener, experimentierfreudiger Mensch“ allmählich begann, die Freuden der Sexualität in vollen Zügen zu genießen und parallel ein umfassenderes Verständnis der Welt zu entwickeln. Und es zeigte (und feierte), wie sie zu guter Letzt, nach einigen verblüffenden Wendungen, ihre Unabhängigkeit erlangte. Lanthimos erzählte diese Befreiungsgeschichte mit Lust an kühner visueller Opulenz als exzentrisches Kulissen- und Kostümfurioso – und ließ aus dem moralischen Erwachen der Heldin schließlich sogar eine für seine Verhältnisse erstaunlich lebensbejahende Sicht auf die Welt sprießen. Auf subtil subversive Weise vermittelte uns diese feministische Parabel über das Begehren und ein ungezügeltes Leben die Überzeugung, dass die meisten von uns fähig und willens sind, das Gute und Schöne zu sehen und danach zu streben.

The Holdovers

Ausgerechnet er. Bislang vor allem als unerbittlicher, auch bissiger Chronist der Befindlichkeiten der amerikanischen Mittelschicht bekannt (von Sideways bis The Descendents), hat uns Regisseur Alexander Payne hier wohl den unerwarteten Feel-Good-Film des Jahres geschenkt. Ja, man könnte sogar sagen, dass diese bittersüße Geschichte, die an Weihnachten 1970 in einem ansonsten verlassenen College ein Trio von Außenseitern unfreiwillig zusammenführt, das Zeug zu einem künftigen Feiertagsklassiker hat. Was sich freilich nicht so eindeutig sagen ließ: Welche der drei Darstellungen am hellsten leuchtete. Die von Paul Giamatti, der einen misanthropischen Geschichtsprofessor spielt, der wider Willen auf dem Campus bleiben muss, die von Newcomer Dominic Sessa, der den alleingelassenen Problemstudenten gibt, der betreut werden muss, oder die von Da’Vine Joy Randolph als Schulköchin, die um ihren in Vietnam gefallenen Sohn trauert? Vielleicht ist es auch egal. Auf jeden Fall war Payne darauf aufbauend sein reifster Film gelungen: Das vielschichtige Drehbuch legte die Schwächen seiner Figuren zwar weiter ungeschönt offen, arbeitete aber auch mit viel Mitgefühl und Wärme die Fähigkeit des Menschen heraus, trotz allem voranzuschreiten und letztlich vielleicht sogar über sich hinauszuwachsen.

All of Us Strangers

Die Geistergeschichte, die im Zuge dieser Viennale am intensivsten für Gänsehaut zu sorgen wusste, war keineswegs ein Horrorfilm, sondern diese Adaption eines Romans von Taichi Yamada. In einem merkwürdig menschenleeren Londoner Hochhaus lernte der verschlossene Schreiber Adam (Andrew Scott, der Hot Priest aus Fleabag) einen feschen, mysteriösen Nachbarn (Paul Mescal) kennen. Während die beiden sich zögernd annäherten, stieg Adam immer wieder in einen Zug, um seine Eltern (Jamie Bell und Claire Foy) im Haus seiner Kindheit zu besuchen. Aber warum schienen Mom und Dad in seinem Alter zu sein? Regisseur Andrew Haigh (Weekend) nahm sich alle Zeit der Welt, um das Mysterium des Stoffs zu lüften, während er sich mit traumwandlerisch sicher an seinen emotionalen Kern heranschlich. Inszenatorisch virtuos verstand er es, dabei weder zu früh die Karten auf den Tisch zu legen noch ins Unglaubwürdige oder auch Rührselige abzugleiten. Was selbstverständlich nicht heißt, dass man für das Ende dieser einfühlsamen Auseinandersetzung mit Themen wie Familie, queerer Liebe und Vergänglichkeit nicht sicherheitshalber doch ein paar Taschentücher bereithalten sollte …

Anatomy of a Fall

Der diesjährige Palme d’Or-Gewinner: ein raffiniert trügerisches Justizdrama mit doppeltem Boden. Im Mittelpunkt des jüngsten Werks der französischen Regisseurin Justine Triet stand eine erfolgreiche Schriftstellerin (herausragend: Sandra Hüller), die des Mordes an ihrem Mann verdächtigt wurde, nachdem dieser unter rätselhaften Umständen aus dem obersten Stockwerk ihres Chalets in den Tod gestürzt war. Während ein Verfahren den Fall im doppelten Wortsinn aufklären sollte und der blinde Sohn der beiden als Zeuge im Zuge dessen in ein moralisches Dilemma zu geraten drohte, erfuhren wir mit jeder Enthüllung auch mehr über die bewegte Beziehungsgeschichte des Paares. Ohne spoilern zu wollen, hatte Triet mehr im Sinn als rein die Beantwortung der zentralen Schuldfrage. Als wäre Szenen einer Ehe in Form eines Whodunnits wieder zum Leben erweckt worden, lieferte Anatomy of a Fall eine scharfsinnige, aufwühlende Analyse zwischenmenschlicher Beziehungen und einen ungeschönten Blick auf die Lügen, Geheimnisse und Vertrauensbrüche, die diese zerbröseln lassen. Apropos Brösel: 50 Cents „P.I.M.P.“ wird man nach diesem Film auch nie wieder mit denselben Ohren hören können.

Ferrari

An das letzte Mal, als sich eine über 80-jährige Hollywood-Filmemacher-Ikone mit Adam Driver in der Hauptrolle an ein italienisches Nationalheiligtum wagte, wollen wir uns lieber nicht erinnern. Denn dies ist garantiert nicht das House of Gucci, und Michael Mann ist auch fix nicht Ridley Scott. Wo dieser seine Filme auch im hohen Alter wie am Fließband herunterkurbelt, nimmt sich der Heat-Regisseur bewusst Zeit, sie reifen zu lassen. Das Ergebnis sind hypnotisch elegante, stilistisch solitäre Wunderwerke wie dieses Biopic über zentrale drei Monate im Leben von Enzo Ferrari. In jener Zeit Mitte der 50er Jahre versuchte der Automobilkonstrukteur nicht nur, seine Firma durch den Sieg bei einem 1000-Meilen-Rennen vor dem Bankrott zu retten, sondern auch seine beiden Liebesleben mit Ehefrau (Penélope Cruz) bzw. Geliebter (Shailene Woodley) nicht miteinander kollidieren zu lassen. Und hier kam in zentraler Funktion der bereits erwähnte Adam ins Spiel, der den Driver-Zampano als unnahbare Autoritätsperson interpretierte: wortkarg, ungerührt, eine tief sitzende Traurigkeit auf Dauer nur unzureichend überspielend. Eine Performance, so unprätentiös groß wie der Film, in den sie eingebettet war. Das alles ergab knapp nach der Ziellinie jenen raren Eintrag ins Genres des Autokinos, den man – wie der Autor dieser Zeilen – auch gut finden konnte, wenn man für Karren null übrig hat.