Karneval der kaputten Seelen: In seinem ersten Post-Oscar-Film lässt Guillermo del Toro das Übernatürliche kurz hinter sich – und widmet sich in einer grimmigen Noir-Neuauflage Aufstieg und Fall eines schamlosen Scharlatans.

Darum geht’s: Der nächste Schritt. Er will wohlüberlegt sein. Gilt ganz generell, aber erst recht, wenn einem für selbigen nicht nur hypothetisch alle Türen und Tore offenstehen. Wenn man als Filmemacherin oder Regisseur etwa grad den Olymp der Zunft erklommen und sich den Oscar abgeholt hat. Und jedes Filmstudios und längst auch sämtliche Streaminganbieter mit den ganz besonders dicken Scheckbüchern wacheln, um einem zu versichern, dass sie nahezu jedes Budget für die Verwirklichung der gewiss oft aufgeschobenen Herzensangelegenheit der gerade gehypten Koryphäe locker machen würden. Da kommt man schon mal leicht in Versuchung – und mitunter auf seltsame Ideen. Wie etwa Steven Spielberg, dem nach seinem Triumph mit Schindlers Liste nichts anderes in den Sinn kam als ein ausnahmslos austauschbares Sequel zu Jurassic Park. Oder als aktuelleres Beispiel die begnadete Chloe Zhao, die ihrem Meisterwerk Nomadland ausgerechnet bei der nahezu jede individuelle Originalität ausbremsende Marvel-Maschinerie andockte (Eternals wurde der Fairness halber zwar schon gedreht, bevor Zhao den Oscar bekam, das macht die Sache aber auch nur geringfügig besser).

Entsprechend gespannt durfte man sein, was Guillermo del Toro seinem 2018er-Academy-Award-Triumph The Shape of Water filmisch folgen lassen würde. Besonders, wenn man in Betracht zieht, dass seine mexikanischen Regiekollegen Alejandro González Iñárritu (Birdman) und Alfonso Cuarón (Gravity) ihren jeweiligen Oscar-Gewinnerwerken Arbeiten folgen ließen, die gleich wieder den Filmhauptpreis gewannen (Iñárritus The Revenant) oder zumindest für diesen nominiert waren (Cuaróns Roma). Oder wenn man zusätzlich bedenkt, dass die Zahl von del Toros geplanten, nie verwirklichten Projekten – von Justice League Dark über Beauty and the Beast bis zur Lovecraft-Adaption At the Mountains of Madness – überdies längst Legion ist. Tatsächlich aus der Kiste mit all seinen unverfilmten Scripts zauberte er schließlich Nightmare Alley – das in gleich mehrerlei Hinsicht eine Premiere darstellt: Es ist der erste del Toro, den man als Remake interpretieren darf (auch wenn er selbst es anders sieht), es ist der erste del Toro, der nicht einen Funken Phantastisches oder Übernatürliches in sich trägt, und es ist der erste del Toro, der sich dem Film noir zurechnen lässt, dem einzigen Genre, das den Regisseur laut Eigenauskunft neben, eh klar, Horror und Fantasy sein Leben lang begleitet hat.

Freilich hat der Goth-Großmeister aus Guadalajara dafür keinesfalls das Grauen ganz hinter sich gelassen – oder gar die Monster: Diese sind diesmal allerdings nicht auch, sondern ausschließlich menschlich. Dass man sich auch sonst auf keinen handelsüblichen Noir einstellen sollte, dafür bürgt schon die Vorlage: der pechschwarze, 1946 erschienene (und ein Jahr später eben schon mal verfilmte) Roman von William Lindsay Gresham, der um keines der Genre-Standardthemen wie Raub oder Mord kreist, sondern um deren weniger aufsehenerregenden Cousin: den Betrug. Den Betrug durch einen charismatischen Con Man, um genau zu sein – womit wir auch schon mittendrin in der Story des Stanton „Stan“ Carlisle (Bradley Cooper) wären. Nachdem dieser sich die lodernden Überreste seines bisherigen Lebens eben noch einmal kurz im Rückspiegel betrachtet hatte, heuert er um das Jahr 1940 herum auch schon als Aushilfskraft bei einer Karnevalstruppe an, um sich bei den Geeks und Gauklern mit Einfällen und Einschmeicheleien im Handumdrehen beliebt und unersetzbar zu machen. Der talentierte Mr. Carlisle hat indes schnell andere Pläne: Nachdem er sich von der Hellseherin der Truppe (Toni Collette) elementare Schmähs und Skills ihrer Zunft abgeschaut hat, beschließt er, sich neu zu erfinden und selbige selbst zur Anwendung zu bringen: Gemeinsam mit seiner Liebe, der schüchternen Zirkuskollegin Molly (Rooney Mara), haut er sich über alle Zelter, um mit einer eigenen Mentalisten-Show in den Clubs der Großstadt für Furore zu sorgen und der betuchten Klientel den einen oder anderen Dollar aus der Tasche zu ziehen. Doch selbst das ist dem ambitionierten Menschenfänger noch nicht genug – mit Hilfe des Adressbuchs und Insider-Wissens einer unergründlichen Seelenklempnerin (Cate Blanchett) möchte Stan auf Kosten willfähriger Wohlhabender den ganz großen Reibach machen. Was sollte schon schiefgehen?

Wenig überrascht dringt del Toros große Liebe zum Genre auch aus jedem von Stamm-Kameramann Dan Laustsens reichhaltig-gesättigten, barock-düsteren Bildkompositionen (mehr Authentizität hätte es höchstens, wenn komplett in Schwarz-Weiß gedreht worden wäre), die selbst bei Tageslicht eine unwirkliche, dem Titel entsprechende alptraumhafte Atmosphäre zu genieren verstehen. Diese Liebe äußert sich darüber hinaus auch in einer – im Vergleich zur Erstverfilmung – verlängerten Laufzeit, die sich Guillermo gönnt, um immer mal wieder einen Extramoment lang in der Ausstattungspracht zu schwelgen oder zum Geschehen als Kontrapunkt manch einst verbotenen Gewaltausbruch unterzumengen. Wir haben es hier, wenig überraschend, mit jener Hochglanz-Sorte Noir zu tun, der aus freien Stücken eher auf die Augen als auf die Ohren abzielt – irgendwie folgerichtig also, dass die Dialoge nicht durchgehend die Rasiermesserschärfe des Originals oder anderer Genre-Großtaten für sich verbuchen können.

Der Wirkmächtigkeit des Werks tut dies mitnichten einen Abbruch – visuell erzählt gegenwärtig immer noch kaum jemand gewinnender als der Mexikaner, dem hier zudem in zuverlässig schlauer Weise auch die Eingemeindung eines politischen Subtexts gelingt. Denn so aktuell aufgelegt die Story vom schmierigen Opportunisten, der mit seiner dreisten Blenderei und Bauernfängerei unmissverständlich die Kehrseite des American Dream repräsentiert, auch sein mag: Sie in ein solch zwingendes Arrangement aus Psychothriller und Charakterstudie zu gießen, das mehr als nur den zu erwartenden ästhetischen Wumms besitzt, ist aller Ehren wert. Besonders, wenn man mit einpreist, dass der dafür an sich unverzichtbare Schauspiel-Boost vollumfänglich nur in den Nebenrollen vorhanden war. Die Hauptattraktion Bradley Cooper hingegen lässt in wesentlichen Momenten bisweilen jenen nötigen Nachdruck und Tiefgang vermissen, der für eine echte Ergründung seines komplexen Scharlatans unerlässlich gewesen wäre. Etwas wohlwollender könnte man auch behaupten, dass er die innere Leere seiner Figur perfekt nach außen ausstrahlen lässt. Ein unleugbares Manko dieses Films bleibt diese zentrale Performance dennoch, kein spielentscheidendes zwar, aber doch ein gewichtiges. Mitunter ist es eben nicht nur entscheidend, wohin man den nächsten Schritt setzt, sondern auch mit wem. 

Besondere Beachtung: Aus dem ansonsten über jeden Zweifel erhabenen Cast sticht Richard Jenkins noch einmal extra heraus – der ewig großartige Charaktermime (für The Shape of Water auch oscar-nominiert) legt des Meistermanipulators vermeintlich letztes, besonders betuchtes Bauernopfer mit einer so undurchdringlichen Verschränkung von Verzagtheit und Verbitterung an, dass man sich nie sicher sein kann, ob man nun Mitleid oder eine Heidenangst haben sollte.

Koordinaten: Nightmare Alley (1947); The Postman Always Rings Twice (1946); Crimson Peak

Anschauen oder auslassen? Anschauen. Was denn auch sonst. Der del Toro, auf den man freiwillig verzichten könnte, ist immer noch nicht gedreht worden. Seine pechschwarze wie polierte Exkursion zum Karneval der kaputten Seelen gehört zwar wegen der erwähnten Abzüge in der B(radley)-Note nicht zu den ausgezeichneten, allerdings immer noch ohne jede weitere Einschränkung empfehlenswerten Einträgen im Werkkatalog des Propheten des Phantastischen.