Apple TV strikes again: Taron Egerton und Paul Walter Hauser liefern sich nach Krimi-Gott Dennis Lehanes Adaption eines bestürzenden realen Serienkillerfalls einen Schauspiel-Showdown, der mit Vehemenz an die Substanz geht.

Darum geht’s: Gerade in Urlaubszeiten wie diesen gilt sie wieder ganz besonders, diese eine Evergreen-Erkenntnis: Auch wenn es schier nie versiegenden Nachschub verspricht, sollte man dazuschauen, das Buffet noch zu einem Zeitpunkt aufzusuchen, an dem nicht bereits sämtliche beliebten Gustostückerl vergriffen sind. Sonst bleibst du auf dem traurigen Rest sitzen, der dir trotzdem noch als geheimer Gaumenschmaus angepriesen wird. Auf TV-Verhältnisse übertragen heißt das: Die Pasteis de Nata der All-You-Can-Watch-Menüs der ungezählten Anbieter waren in den letzten Monaten fraglos True-Crime-Dramaserien. Da konntest du zu so gut wie jeder Tages- und Nachtzeit vor dem Schirm landen: Irgendeine, auf einem sich realen Verbrechen beruhende frische Fiction-Produktion kam dir dabei garantiert unter, ungewollt häufig. An dieser Stelle nun auch nur die wichtigsten auf dem Gebiet aufzuzählen, würde freilich jeden vernünftigen Rahmen sprengen, zwei der besseren – Under the Banner of Heaven sowie The Staircase – wurden von Screen Lights ohnehin schon gewürdigt. Die Krux an der andauernd wahren G’schicht ist indes: So nachvollziehbar es aus Streamer-Sicht auch sein mag, jenen schier niemals enden wollenden Spezial-Appetit des Publikums stillen zu wollen: die gute Ware aus dem entsprechenden Eck war zuletzt immer schwieriger ausfindig zu machen – oder auch nur zu produzieren. Weil selten alle Faktoren zusammenspielten, also entweder Stoff oder Umsetzung oder beide Mankos aufwiesen, die auf den Magen schlugen. Das bedeutet im gegenteiligen Fall freilich auch: Wenn der Koch denn ein Könner ist und sonst ebenfalls alle Zutaten über jeden Zweifel erhaben sind, dann kann dabei auch gleich mal ein Instant-Klassiker herauskommen. Willkommen bei Black Bird.

Der erwähnte Könner in dieser Kreativküche hört auf den Namen Dennis Lehane und ist einer der profiliertesten, deshalb ganz besonders gern und gut verfilmten Crime-Autoren der letzten Dekaden (Mystic River, Shutter Island). Obwohl Lehane sich gemäß Eigenauskunft lange dagegen gesträubt hat, sich der hinter Black Bird steckenden Ereignisse anzunehmen, weil selbige selbst ihm als zu düster erschienen, kam er ob ihrer unbestrittenen Wuchtigkeit letztlich doch nicht umhin, sie mit seiner feinen Feder zu bearbeiten. Ein großer Glücksfall. Die Erzählung beruht auf den Memoiren eines gewissen James Keene, sie tragen den Titel In With The Devil: A Fallen Hero, A Serial Killer, And A Dangerous Bargain For Redemption – und bringen damit gleichsam schon den gesamten Inhalt dieser Miniserie in kompaktester Form auf den Punkt. Jener „Jimmy“ Keene (Taron Egerton) war in den 90er Jahren ein lupenreiner Bonvivant, ein Hallodri, wie er auch sonst gern mal im Buche steht: Ein Lebemann und Frauenheld, dem schnellen Leben in jeglicher Hinsicht nicht nur nicht abgeneigt, sondern absolut aktiv zugewandt. Zumindest so lange, bis er eines Tages wegen Kokshandels verknackt wird – und zwar nicht wie erhofft für eh nur zwei, sondern gleich für ganze zehn Jahre. Ein Urteil, das nur noch vernichtender erscheint, nachdem sein Kieberer-Vater (Ray Liotta) einen Schlaganfall erleidet – und es dadurch plötzlich durchaus im Bereich des Möglichen liegt, dass sich Vater und Sohn nie wieder in Freiheit sehen werden. Um jenen Worst Case zu verhindern, kommt Jimmy nicht umhin, sich auf einen Deal mit dem FBI einzulassen. Der klingt so verlockend, wie er superschwierig umzusetzen scheint: Er soll dem mutmaßlichen Mädchenvergewaltiger und Serienmörder Larry Hall (Paul Walter Hauser) eine belastbare Beichte entlocken – in Form der Angabe jener Orte, an denen die dutzenden Leichen vergraben sind. Denn falls man diesen kauzigen Schmähtandler, der für falsche Geständnisse berühmt-berüchtigt ist, nicht bald seiner Taten überführen kann, besteht die Gefahr, dass er bald freikommt. Für diese Mission muss sich Jimmy aber erst einmal in ein Hochsicherheitsgefängnis einschleusen lassen, um dann im neuen, richtig erbarmungslosen Umfeld nicht nur zu überleben, sondern auch noch das Vertrauen eines bald unverkennbar sehr gestörten Mannes zu gewinnen.

Wenn man nicht wüsste, dass sich diese Story tatsächlich so ereignet hat, wäre man gewiss auch niemandem gram, der sie als etwas, nun ja, weit hergeholt bezeichnet würde. Folglich sah sich Lehane bei seiner Adaption mit der Herausforderung konfrontiert, nicht nur eine weitere der schier unzähligen True-Crime-Storys mit seiner Special Sauce zu würzen, sondern gleich eine besonders abenteuerlich anmutende. Dahingehend war es denn keine schlechte Entscheidung, der Mindhunter-Methode zu folgen und Sensationalismus sowie Serienmörder-Stereotypen auszusparen und auf einen den Opfern Respekt entgegenbringenden Zugang zu setzen, der diese auf so schreckliche Weise simple Geschichte, diese Reise ins Herz der alltäglichen Finsternis, die tief gestörte Männlichkeit heißt, mit so viel Nuance, Erkenntnisgewinn und Empathie für die Opfer anreichert. Black Bird ist dabei anders als so viele Genre-Werke in keiner Minute daran gelegen, das Grauen, das dutzende Mädchen erleben mussten und das sich uns hier erst nach und nach, Schilderung für grausame Schilderung offenbart, für Thrills oder auch nur für den Algorithmus kitzelnde Kicks & Tricks zu trivialisieren. Lieber geht es gut reflektiert dorthin, wo es wehtut – und lässt dabei lieber Worte sprechen statt Bildern: Wie sich aus dem geplanten kurzen Interview mit einem besonders fiesen Mann (frei nach David Foster Wallace) eine bald zutiefst persönliche Konfrontation zweier Kerle entwickelt, wie sich Jimmy im Bestreben um Berührungspunkte in die Geisteswelt seines Gegenübers hineinversetzen muss, um sich auf diesem Wege selbst viel besser kennenlernen als es ihm lieb ist: Das hat eine beunruhigende, markerschütternde Kraft, von der solchen Genreformate sonst nur noch selten durchsetzt sind.

Womit wir auch schon beim – neben dem mitreißend verdichteten Drehbuch und der darauf mit alptraumwandlerischer Sicherheit angedockten Inszenierung – wirkmächtigsten Trumpf dieser Apple-TV-Show wären: der Besetzung. Was zumindest meine Wenigkeit, die Taron Egerton (Kingsman) bis dato im besten Fall annehmbar fand, doch bass erstaunt hat. Aber die Rolle des mit allen Gaben und Gütern gesegneten Feschaks, der in sich selbst ungeahnte Abgründe aufarbeiten muss und daraufhin ungeahnte Qualitäten erkennen darf, war für den jungen Briten fraglos ein richtig gut genutzter Glücksfall, mit dem er eine neue Sprosse auf der Karriereleiter unlocken dürfte. Und das mit allem Recht: Hier hat es eine Karrierebestleitung, die Lust auf mehr macht. Selbige war freilich auch nötig angesichts seines Gegenübers: des immer noch zu selten besungenen Schauspielschwergewichts Paul Walter Hauser (Richard Jewell), der hier eine Power-Performance auf den Tisch knallt, die die Emmy-Jury bald mit den Ohren schlackern lassen sollte. Wie Hauser diesem so lächerlich wie gefährlichen Proto-Incel mit fisteliger Stimme und Haushaltsmengen von schlecht unterdrückter Wut und ewigem Selbstmitleid unvermutete (und wohl auch unverdiente) Tiefe verleiht, das ist – hier eine letzte Kulinarik-Metapher, promised! – das Sahnehäubchen auf diesem ohnehin schon sensationell schmackhaften Kuchen: eine perfekte Performance in einer perfekten Produktion. Nachschlag bitte!

Besondere Beachtung: Verdient natürlich einer der letzten Auftritte der Legende Ray Liotta, die hier noch einmal einen seiner prototypischen knorrigen Kerle mit extraharter Schale, aber eigentlich „zu vü Gfühl“ – und sehr schlechtem Gewissen seinem Sohn gegenüber – gibt. Jede, wirklich jede Szene mit Liotta: leuchtet einfach nur, bewegt selbst, wenn vermeintlich nichts Weltbewegendes passiert. Außerdem natürlich: Music by Mogwai. Die schottischen Post-Rock-Giganten heben, wie schon so, so oft (von Miami Vice über Zidane: A 21st Century Portrait bis Les revenants) ohnehin bereits ausgezeichnetes Ausgangsmaterial noch einmal auf ein anderes Intensitäts-Level – wobei das Augenmerk dieses Mal weniger auf den typischen kathartischen Ausbrüchen denn auf dem Knüpfen minimalistisch atmosphärischer Ambient-Teppiche liegt.

Koordinaten: Mindhunter; Mystic River; True Detective; Manhunt; Mayor of Kingstown

Anschauen oder auslassen? Anschauen. Auch wenn man an sich von True-Crime-Dramen die Nase schon gestrichen voll hat, hat es sich Black Bird unbedingt verdient, dass man einen Blick riskiert. Und es wird dann garantiert auch nicht bei einem Blick bleiben: Weil es Lehane und sein brillanter Cast hinbekommen, in puncto Tonfall und Tiefgang Aspekte aus dem Memoiren-Material rauszukitzeln, die sich in diesem Genre noch mal frisch, anders und außergewöhnlich anfühlen – und dadurch auch besonders stark nachhallen. Ein zwingender Beweis für das Extra, das mit Hilfe von Mut und echter Meisterschaft möglich ist – und für Apple TV nach Severance und Pachinko nun bereits die dritte echte Ausnahmeserie in dieser Spielzeit.

[Geschaut: gesamte Miniserie]